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Was ist Kirchentag?

Versuch einer Erklärung


Da bereiten sich manche Leute nun auf den Kirchentag vor. Und da fragen die selben und andere Leute, was das denn eigentlich ist: Der Deutsche Evangelische Kirchentag, wie er vom 1. bis 5. Mai 2013 wieder stattfindet, diesmal in Hamburg mit der Losung „Soviel du brauchst“. Aber kaum einer, auch nicht von denen, die daran teilnehmen oder schon oft teilgenommen haben, kann das exakt und gültig sagen. Auch hier wird es nur mangelhaft möglich sein.

Eine landläufige Erklärung lautet: Der Kirchentag ist die große protestantische Laienbewegung in diesem Lande. Der erste Kirchentag im neuen Verständnis dieses Wortes hatte 1949 zwar das Motto „Kirche in Bewegung", doch es gibt keine bestimmte „Bewegung" oder selbstständige Organisation der evangelischen „Laien" in Deutschland. Zum Kirchentagstreffen mussten sie seit je erst bewegt werden, und in den Kirchentagsgremien arbeiten selbstverständlich auch Theologen mit. Den Kirchentag als Laienversammlung zu bezeichnen ist so richtig und so falsch, wie diese Bezeichnung auch für die Versammlung einer örtlichen Kirchengemeinde passend oder unpassend wäre.

Über weitere sieben populäre Irrtümer zum Kirchentag klärt der Kirchentagskenner Harald Uhl auf.

Einerseits ist der Kirchentag eine Institution mit etlichen Gremien und kleineren ständig wirkenden Büros: Mit einem Leitungskollegium, bestehend aus fünf Referenten, in Fulda, an deren Spitze jeweils die Generalsekretärin oder der Generalsekretär steht. Zur Zeit ist das die Theologin Ellen Ueberschär. Außerdem gibt es am jeweiligen Ort des Kirchentages für zwei bis drei Jahre eine Geschäftsstelle. Gremien sind u. a. Landesausschüsse, Präsidialversammlung und ein Präsidium, das für die Programme verantwortlich ist und aus dessen drei- oder vierköpfigen Vorstand jeweils für zwei Jahre, also für einen Kirchentag, die Präsidentin oder der Präsident amtiert. Andererseits besteht der Kirchentag aus Kirchentagen. Das heißt, die ständig wirkenden Gremien und Büros initiieren und organisieren kirchliche Großveranstaltungen, die bisher jeweils in einer (einmal waren es mehrere) Großstadt abliefen und nummeriert sind. So trägt die nächste Veranstaltung in Hamburg die Bezeichnung „34. Deutscher Evangelischer Kirchentag".

Jeder Kirchentag wird genau fünf Tage alt

Die einzelnen Kirchentage sind freilich so unterschiedlich, wandlungsfähig und jeweils auf andere Weise bunt schillernd, dass jeder Kirchentag als Unikum anzusehen ist, das genau fünf Tage alt wird. Länger dauert und lebt der einzelne Kirchentag nicht. Er ist in diesen Äußerlichkeiten ein entfernter Verwandter der Olympiaden. So gehört auch zu seinen festen Bräuchen, dass jeweils in der Schlussveranstaltung die Einladung zum nächsten Kirchentag in eine bestimmte Stadt oder Region ausgesprochen wird.

Bedeutend länger als fünf Tage wirkt allerdings die Ausstrahlung der Kirchentage. In der Vorbereitungszeit, die etwa anderthalb Jahre dauert, entstehen bei vielen Einzelnen und Gruppen Erwartungen, Wünsche, Hoffnungen, Befürchtungen, Ängste und Vorfreude. Zu den Nachwirkungen gehören Mitteilungsfreude, Erinnerungen, Erfahrungen, Nachahmung, Kritik und Deutungen. Wahrscheinlich sind diese Ausstrahlungen für die Teilnehmer, aber auch für das kirchliche Leben, wichtiger als alles, was „auf“ einem Kirchentag geschieht.

Was auf einem Kirchentag geschieht, ist von einem einzelnen Teilnehmer nicht wahrzunehmen. Die offiziellen Programme und halboffiziellen Rahmenprogramme sind seit je so umfangreich, dass der einzelne Teilnehmer nur einen Bruchteil des Angebotes aufnehmen kann. Inzwischen liegt die Zahl der Programmpunkte bei etwa 3000, im Durchschnitt der drei „Arbeits“tage also etwa bei 1000.

Auch die Verantwortlichen des Kirchentages, also die Präsidiumsmitglieder, können „ihre“ Veranstaltung, streng genommen, nicht überblicken; sie müssen sich gegenseitig erzählen und von weiteren Beobachtern erzählen lassen, was sich im einzelnen ereignet.

„Ganz fromm“ oder „nur politisch“?

So kann es vorkommen, dass fünf oder zehn Menschen, die aus einer Gemeinde zum Kirchentag fahren, wenn sie sich aufteilen, fünf oder zehn ganz verschiedene Kirchentage erleben. Etwa „ganz fromm“ oder „fast nur politisch“. Jeder kann nur seine persönlichen Eindrücke wiedergeben, kaum allgemeingültige Beobachtungen. Wer teilnimmt, kennt aber einen, nämlich „seinen“ Kirchentag, mit Eindrücken, die er wenigstens streckenweise mit anderen Teilnehmern teilt.

Diese Eigenschaften des Kirchentages haben sich allerdings erst seit Ende der 60er Jahre stärker ausgeprägt. In den Fünfziger Jahren war es noch eher möglich, dass während eines Kirchentages eine einheitliche Grundstimmung aufkam, eine Stimmung, die viele Menschen auf weiteren Kirchentagen wieder erleben wollten und konnten. Sie fand wohl ihren stärksten Ausdruck in der Losung des Kirchentages von 1951 in Berlin: „Wir sind doch Brüder".

Bis 1961 hatten die Kirchentage neben ihrer starken geistlichen Prägung auch eine von den Veranstaltern weniger beabsichtigte politische Dimension. Sie wurden von vielen Teilnehmern als Massendemonstrationen für die Einheit Deutschlands empfunden.

Nach Wegfall dieser politischen Dimension erhoben verschiedene kirchliche Gruppierungen den Vorwurf, der Kirchentag werde nun politisiert. Tatsächlich entwickelte sich der Kirchentag nach einer Phase in den Fünfziger Jahren, die eher die Gefühle der Teilnehmer beanspruchte, in den Sechziger Jahren zu einem Unternehmen, das stärker als zuvor auch den Verstand der Teilneh-menden ansprach. Das drückte sich schon in den Losungen aus: „Mit Konflikten leben" (1963 Dortmund), „In der Freiheit bestehen" (1965 Köln), „Der Frieden ist unter uns" (1967 Hannover). 1969 gelang es dem Kirchentag, den Grund der politischen Unruhen jener Zeit schon in seiner Losung zu artikulieren: „Hunger nach Gerechtigkeit", und 1971, als man hierzulande an diversen Zuwachsraten fast zu ersticken drohte, hieß die Losung „Nicht vom Brot allein".

Hoffnungen und Ängste

Die unterschiedlichen inhaltlichen Akzente entstanden, weil der Kirchentag sich auf die Interessen, Hoffnungen, Wünsche und Ängste der möglichen Teilnehmer einstellte. Der Kirchentag hat sie jeweils aufgegriffen und thematisch kanalisiert. Seit 1973, mit den Kirchentagen in Düsseldorf und Frankfurt (1975), haben neue inhaltliche und formale Elemente die Veranstaltungen angereichert: In der „Liturgischen Nacht" wurden Fantasie und Emotionen angesprochen, durch den „Markt der Möglichkeiten“ die Vielfalt christlichen Engagements demonstriert. Dabei entstand eine Atmosphäre, in der sich insbesondere auch jüngere Menschen wohlfühlen konnten. Manches spricht dafür, dass die Interessen der Kirchentagsteilnehmer auch weiterhin auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Gefühl und Verstand gerichtet sind.

Der Kirchentag darf als die bedeutendste Entwicklung innerhalb des deutschen Protestantismus in den letzten 65 Jahren gelten. Er hat weitere Entwicklungen angestoßen. Zum Beispiel die Erneuerung christlicher Lieder, die christlich-jüdische Zusammenarbeit oder die Förderung der Ökumene. So trafen sich evangelische und katholische Christen 2010 zum zweiten Mal zu einem Ökumenischen Kirchentag in München. Das erste Treffen dieser Art fand 2003 in Berlin statt.

© Wolfgang Fietkau


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