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Medien verändern unser Leben

Als alles digital wurde


(Oktober 1998) Die Digitalisierung von Schrift, Bild und Ton bringt einen dramatischen Wandel in der Medienlandschaft. Mit dem PC kann man jetzt auch auch telefonieren und fernsehen. Eine CD-ROM, von der wir vor zehn Jahren staunend hörten, sie könne den Inhalt der Bibel aufnehmen, trägt heute auch kleine „Filme“. Ihre Weiterentwicklung ersetzt die Videotechnik. Inzwischen vereint die CD-ROM Funktionen von Buch, Schallplatte und Hörcassette. Andererseits übernimmt sie auch die Funktion eines Archivs oder der guten alten Büro-„Ablage“. Die Tage der CD-ROM sind aber schon gezählt. Bald gibt es Nachfolgemedien mit noch größerer Kapazität und höherer Leistung. Und das Internet erst: In kurzer Zeit hat es sich zu einem Medium der Massenkommunikation entwickelt. Alle dafür bekannten Maßstäbe verblassen. Nicht nur die rapide wachsende Zahl der Teilnehmer, inzwischen 130 Millionen, sondern auch die Möglichkeiten, die es zu Nutz und Frommen bietet, sind kaum abschließend zu überblicken. Jeder ist für jeden überall und jederzeit erreichbar. Jeder kann alles erfahren, was ein menschliches Wesen je zuvor gewußt, gedacht und notiert hat.

Wohin soll das nur führen?, so fragen viele. Die Entwicklung krempelt unser Leben, privat und beruflich, in Politik, Wirtschaft, Kultur und Religion so um, wie es in 4.000 Jahren Mediengeschichte, jedenfalls in einer einzigen Generation, noch nicht vorgekommen ist. Am Ende werden, so ist abzusehen, alle Medien zu einem Netz digitaler Kommunikationstechnik zusammengewachsen sein.

Die Veränderungen gehen über das Publizieren weit hinaus: In Zukunft werden wir kein Geld mehr brauchen, sondern elektronisch bezahlen, unsere Unterschrift wird abgelöst durch einen Code. Lernen, Studieren und Arbeiten, unser Freizeitverhalten und unsere Beziehungen zu anderen Menschen werden sich stark verändern. Wir können über unvorstellbar große Datenmengen blitzschnell verfügen, sie strukturieren und nutzen. Sie bringen uns nicht nur Bequemlichkeit und Kenntnisse und Unterhaltung, sondern auch Ängste, Irritation und Streß. Und manchen Menschen verheißen sie auch Macht.

Niemand, so scheint es, kann bisher die Folgen dieser stürmischen Entwicklung, richtig einschätzen. Man muß wohl von einem Kulturschock sprechen. Die Reaktionen der Menschen reichen von Euphorie bis Abwehr und Verdrängung. Und beide, die Euphorischen wie die Wehrhaften, beziehen unwillkürlich den sonderbaren Zeitpunkt an der Schwelle es Jahrhunderts ein: Den einen verheißt der Zeitenwechsel eine neue, lichtere Welt der digitalen Fortschritte, den anderen düstere Ungewißheit neben allem, was sowieso unfaßbar ist an dieser Zukunft. Den einen gibt der Nullenschub auf dem Kalender eine besondere Weihe, den andern verstärkt er Furcht und Zagen. Obwohl das eine, die digitale Revolution, und das andere, ein Jahr mit drei Nullen, nichts miteinander zu tun haben. Aber für das Empfinden der Teilnehmer läßt sich das eine vom anderen nicht so recht trennen. Man muß es ja nicht sagen, aber glauben darf mans wohl.

Manche erkennen durchaus, daß es nützlich ist, wenn sie die eine oder andere PC-Anwendung für ihre beruflichen Aufgaben oder privaten Zwecke einsetzen. Sie lassen sich auf neue Verfahren und Möglichkeiten ein. Allerdings sind viele noch weit von der Erkenntnis entfernt, daß alle Lebensbereiche von den digitalen Verfahren in relativ kurzer Zeit umwälzend verändert werden: Politik und Kultur und Wirtschaft , Gesellschaft, Religion. Wirklich alle Bereiche.

Ein Mann, der nicht gerade im Verdacht steht, einer allzugroßen Fortschrittsgläubigkeit hinterherzulaufen, ist Bundespräsident Roman Herzog. Im Mai 1996 sagte er vor Medienvertretern in Berlin: „Wir marschieren auf ein neues Jahrtausend zu. Das darf man auch in einem übertragenen Sinn verstehen. In ihrer Entwicklung noch junge Kommunikationstechnologien überrollen buchstäblich unser gesamtes gesellschaftliches Dasein. Die Entwicklung verläuft, milde formuliert, chaotisch-stürmisch, und die letzten Konsequenzen sind überhaupt noch nicht abschätzbar.“

Zu den letzten Konsequenzen dieser Entwicklung gehört, daß sämtliche Medien, die wir bisher säuberlich unterscheiden und auseinanderhalten, immer enger zusammenwachsen. Und wenn ein Medium wie das andere auf dem selben Rechner läuft, sind sie bald nur noch Teil einer einzigen im Prinzip multimedialen Technik. Eine Speichertechnik, eine Sendetechnik und eine Empfangstechnik können künftig das Feld beherrschen. Allerdings wird der Empfänger auch Sender sein und umgekehrt der Sender auch Empfänger: nicht nur, wie bisher, über Brief und Telefon.

Zur Zeit richten sich viele Menschen eine Homepage im Internet ein. Firmen, aber auch private Personen, die auf diese Weise richtige kleine Sende- und Empfangsstationen betreiben, sind weltweit vernetzt. Sie können also jeden Ort erreichen und sind von jedem Ort erreichbar. Wer einen nicht allzuhäufigen Namen hat, so die ersten Erfahrungen, bekommt z. B. Botschaften aus anderen Erdteilen mit Anfragen nach möglicherweise gemeinsamen Vorfahren. Du kannst antworten, jetzt oder in einem Jahr. Du kannst es auch sein lassen. So wird auch der private Mensch zu globalen Beziehungen eingeladen.
Neue Medien und Übermittlungstechniken üben, besonders auf jüngere Zeitgenossen, eine große Faszination aus. Dabei übersehen wir häufig, daß Medien und Übermittlungstechniken immer Äußerlichkeiten bleiben, Zubereitungsverfahren, Verpackungs- und Transportmittel. Diese Mittel, die Medien also, werden von manchen Zeitgenossen zum Eigentlichen erhoben, mit dem Zweck verwechselt und mit einer allzu hohen Wertschätzung versehen. Ein verhängnisvolles Mißverständnis, denn dabei bleiben die Inhalte, die mit den neuen Möglichkeiten bewegt, verbreitet werden, vielfach unbeachtet.

Manche Begriffe müßten wohl neu definiert werden: „Elektronisches Publizieren“ - so nennen viele die neueren, die digitalen Methoden des Publizierens. Doch anfangs nannten wir Rundfunk und Fernsehen „elektronische Medien“. Daneben kannte man die Printmedien: Zeitung, Zeitschrift, Buch. Wer vom „elektronischen Publizieren“ spricht, meint heute nicht die elektronischen Medien Rundfunk und Fernsehen, sondern das Publizieren in Digital-Technik, also die digitale Zerlegung, und (nach Beförderung) Zusammensetzung von Schrift, Bild und Ton, wobei unter „Bild“ sowohl „Stand“bilder jeder Art, also Fotos und Graphiken gemeint sind, als auch "bewegte" Bilder, wie Filme und Videos.


Manche sind dagegen

Faszination ist das eine. Wer seine Zeitgenossen beobachtet, sieht allerdings auch, daß manche sich richtig anstrengen, dem Neuen und seinen Herausforderungen auszuweichen: „Man weiß ja noch nichts Genaues“, sagen sie. “Da werden auch nicht alle Blütenträume reifen“. - „Das Buch wird noch lange leben“. - „Wenn der Strom ausfällt, ist alles im Eimer. Und wer wird schon die Buddenbrooks auf dem Bildschirm lesen wollen?“

Zu den Abwehrargumenten gehört häufig die Feststellung, daß im Bett, in der U-Bahn und auf dem Klo noch immer gern und viel gelesen wird. Karikaturen zeigen, was heute schon Wirklichkeit ist, als handele es sich um Horror-Visionen, über die man sich lustig macht. Zum Beispiel eine Buchhandlung, die am Ende einer Autorenlesung die Exemplare zum Signieren in der benötigten Anzahl erst druckt und jeden Käufer vorher fragt, welchen Namen der Held des Romans denn tragen soll.
Für einige Zeit hielt sich die Parole: Elektronisches Publizieren kommt nur für Nachschlagewerke, Wissenschaft und Spiele in Frage. Das ist längst vorbei. Man sehe und höre nur einmal, was Reclam-CDs aus den Schulstoffen der Klassiker gemacht haben.

Manche mokieren sich über die Predigt in der Mailbox, als hätten wir nicht seit einem halben Jahrhundert die Rundfunkandacht: Eine Predigt für unsichtbare Hörer. Noch heißt es bei einigen Kirchenleuten: Eine virtuelle Gemeinde wird es, kann es nicht geben. Andere sagen: die haben wir längst. Auffallend ist, daß als Beispiele für die Beständigkeit unserer althergebrachten kulturellen Werte immer wieder belletristische Werke genannt werden. Darin freilich zeigt sich ein doppeltes Mißverständnis. Einerseits ist es falsch, Lesen mit dem Lesen von Belletristik gleichzusetzen. Andererseits ist aber auch eine Lyrik-Anthologie nicht anderes als eine Datei. Wer sich mit experimenteller Literatur beschäftigt hat, dem ist diese Realität nicht ganz neu.

Viele sehen auch eine Verbindung zwischen dem hierzulande zunehmenden Analphabetismus und der rasanten Entwicklung der digitalisierten Botschaften. Man sollte jedoch das Buch und die digitalen Medien nicht gegeneinander ausspielen. Lesen und Schreiben, die häufig als „Kulturtechniken" bezeichnet werden, brauchen wir zum Bücherlesen genauso wie beim Umgang mit dem PC oder bei Inanspruchnahme eines Online-Dienstes. Inzwischen gilt jedoch der Umgang mit dem PC als eigenständige Kulturtechnik wie Lesen, Sprechen, Schreiben. Auch das Faxen hat das Briefeschreiben nicht abgeschafft. Im Gegenteil, man bekommt heute wohl mehr Handgeschriebenes zu sehen als in der Vor-Fax-Zeit.

Sicher wäre es falsch, denen die sich „da raushalten“ wollen, vorherzusagen, daß sie sich aus allem, was wichtig sein wird, ausschließen und bald den Anschluß an Beruf und Freizeit verloren haben werden. Schließlich gibt es auch Menschen, die aus Prinzip oder aus nicht näher definierten Ängsten sich in kein Auto setzen, in kein Flugzeug, oder die keinen Fahrstuhl benutzen. Sie leben, als hätten sie eine ganz bestimme Behinderung, was ja auch stimmt, denn sie sehen sich subjektiv gehindert, Alltägliches so mitzutun wie andere Menschen. Aber sie leben mit dieser Behinderung wie andere mit der ihren: Sie haben Anschluß, sind berufstätig, können selbständig einen Haushalt führen und gehen bis auf weiteres auch allein einkaufen. Sie haben eben ein Handicap und dürfen von anderen Rücksicht erwarten.


Nichts Neues

Wir haben heute schon ein großes Wissen über die Entwicklung und viele tun so, als hätten wir es nicht. Andererseits wird nichts so heiß gegessen wie es gekocht wird. Die tiefen Veränderungen in allen Teilen des gesellschaftlichen Lebens kommen nicht allein aus dem, was technisch neu ist, sondern mehr aus der Summe des Neuen und den Folgen dieser Entwicklung.

Ein Beispiel: Nachrichten kann der Zeitgenosse künftig so schnell und in so großer Zahl haben wie die Nachrichtenagenturen, oder wenigstens so schnell wie die Redaktionen bei Rundfunk, Fernsehen oder Zeitung. Allerdings: Er muß die Zeit dafür haben, jederzeit Nachrichten zu empfangen. Und er wird so viele Nachrichten bekommen, daß sie ihn erschlagen. Denn: ob eine Nachricht wichtiger ist als die andere, muß jemand entscheiden. Und welche Nachrichten von tausenden jemand überhaupt erfahren will oder soll, ebenfalls. Auch die Reihenfolge der ausgewählten Nachrichten und ihre Verknüpfung mit anderen Nachrichten oder mit Hintergrundinformationen oder die Länge der einzelnen Nachricht - das alles will festgelegt sein. So ist der Zeitgenosse froh, wenn in der Regel weiterhin professionelle Redakteure die Nachrichten auswählen, redigieren und zu festen Zeiten an bestimmten Plätzen vorlegen. Solche Dienstleistungen, die wir seit langem kennen und nutzen, werden also weiterhin nötig sein.

Der Leser wird zum Nutzer, oder, wie es im gängigen „Deutsch“ heißt, zum „User“. Aber auch das ist eigentlich nichts Neues. Wer Lexika oder Atlanten, Kochbücher, Reiseführer oder Handbücher hat, war schon immer mehr Nutzer als Leser. Wer eine größere Bibliothek sein eigen nennt, kennt die Frage von Besuchern: Hast du das alles gelesen? Die Antwort hieß schon immer: Bücher sind nicht nur zum Lesen da, wichtig ist, daß sie im richtigen Moment da sind oder daß ihr Dasein Gelegenheiten schafft, in denen ein Besitzer zum Nutzer oder Leser wird.



Phantasie entfesseln

Unserem Denken oder Phantasieren kommt die digitale Technik durchaus entgegen. Wer denkt schon so, wie wir auf hergebrachte Weise lesen und schreiben: Von einem Anfang zu einem Ende, immer geradeaus, linear. Nein: Wir denken assoziativ, springen irgendwo rein, verknüpfen dieses mit jenem, gehen zurück und vor - und genauso kann nun ein PC-Benutzer auch schreiben und Texte konzipieren. Auch Literatur verläuft meistens linear, nur experimentelle Literatur macht da manchmal eine Ausnahme, sie verläuft mitunter auch assoziativ oder willkürlich montiert oder nach spielerischen Regeln.

Möglich ist nun der Zettelkasten im Kopf: Schon seit PC-Zeiten kann jeder, der schreibt, nach dem Einleitungssatz einen oder zwei Brocken aus dem Mittelteil aufschreiben, dazwischen den Entwurf eines Schlußsatzes, wenns beliebt. Was früher nur mit Zetteln möglich war, gelingt heute mit dem Verfahren Drag und Drop, Ziehen und Fallenlassen: Man pickt Wörter und Sätze auf, schiebt sie hin und her, weist ihnen jetzt diesen und nachher jenen Platz an. Goldene Zeiten für Schreiber.

Solche Möglichkeiten könnten unser Denken und Phantasieren verändern, ja entfesseln. Jener Schöpfungsprozess, den wir zum Anfertigen eines Schulaufsatzes gelernt haben, bremst nämlich unsere Kreativität. Damit könnte es künftig vorbei sein. So schreiben können, wie man denkt und hinterher alles noch ordnen dürfen: Ist das nicht eine willkommene Einladung? Etwas, wovon Millionen Menschen, die früher mit einer mechanischen oder elektrischen Schreibmaschine schrieben und ihren Text nach Korrekturen immer noch einmal abschreiben mußten, allenfalls in ihren kühnsten Träumen eine Vorstellung hatten. Die Kehrseite: Wenn es so leicht ist, Mitteilungen zu produzieren, wird mehr und mehr produziert. Die Informationsflut steigt, und der Mensch braucht Auswahlverfahren. Viele sprechen von einer Informationsflut, die sie belästigt. Wie können wir diese Flut durch elektronische Verfahren ein wenig verlangsamen, die öffentlichen Sprühdüsen regulieren?, so fragen sich viele. Wenn es gelänge, unsere Qualitätsansprüche zu trainieren, wären wir auf dem richtigen Weg dahin.

Man unterscheidet Inhalte äußerlich danach, ob sie unabhängig von einem Zeitbedarf „vorhanden“ sind, wie eine Graphik, ein Bild, ein Schriftsatz, oder ob sie, eingebunden in einen bestimmten Zeitbedarf, „ablaufen“ wie Sprache oder Film. Unsere Phantasie behält bei der „stehenden“ Information eine größere Freiheit zum ergänzenden Mittun; bei der bewegten, ablaufenden Information (also im Fernsehen und im Radio) wird sie stärker geführt und kann allenfalls nach Schluß der Darbietung noch etwas hinzutun.

Die Grenzen zwischen Publizieren und Archivieren verwischen - eine kleine Revolution für sich. Ist das eine nicht das Gegenteil vom anderen? Ob ich eine Information archiviere oder ob ich sie veröffentliche? Also: Publikationen, wie sie in Buchhandlungen und Bibliotheken stehen, und noch nicht publizierte Materialien und Werke werden sich ähnlich, ja: sie sind gleichwertig, sobald sie in Datenbanken verfügbar sind.

Der Mensch kann Informationen aufnehmen und verarbeiten. Ist das sein Erkennungszeichen? Ein charakteristisches Merkmal für menschliche Wesen? Das wohl nicht, denn Informationen können natürlich auch Tiere aufnehmen, sogar Maschinen können das. Lesen allerdings ist mehr als Informationen aufnehmen. Beim Lesen treffen Informationen auf das Gemüt einer individuellen Persönlichkeit und lösen dort etwas aus. Das können Stimmungen sein, Gefühle oder die Wahrnehmung einer Befindlichkeit. Eine bestimmte Information kann bei verschiedenen Menschen durchaus unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Dafür ist einerseits die momentane Empfänglichkeit des „Lesers“, Empfängers ausschlaggebend. Andererseits ist es aber auch die Beschaffenheit des Mediums, also etwa Design und Typographie beim Printmedium, zum Beispiel einer Zeitschrift, genau wie die Anmut oder Kleidung einer Darstellerin oder das Timbre eines Sprechers.



Bedrohliche Szenarien

Die sogenannte Informationsgesellschaft will ja gar nicht pausenlos informiert, sie möchte zum Beispiel auch unterhalten sein. Wie wir inzwischen erleben, kann Unterhaltung merkwürdige Blüten treiben. Wenn es auf Deibel komm raus um Einschaltquoten geht, dann - so argwöhnen manche - braucht jener große Teil der Menschheit, der sich Informationsgesellschaft nennt, am Rande womöglich auch fortwährend kleine Kriege, damit die Nachrichten ihren unterhaltsamen Gruselwert behalten.

Ein anderes Szenario: Die Kirche war neben dem Theater die Medienanstalt des Mittelalters. Was die Kirche früher leisten konnte, leisten inzwischen andere Medien. Die Menschen wenden sich in Scharen diesen Medien zu, laufen und fahren mit Stöpseln im Ohr herum und hängen zu Hause an den Programmen für Ohr und Auge. Die Grundfragen ihres Lebens werden jetzt schon - so empfinden sie - von diesen Medien beantwortet. Wem das nicht reicht, der findet Sekten und Kulte in großer Zahl. Konzerne ringen um das Publikum. Dabei geht es ihnen um Einschaltquoten und Vernetzung, um Macht und Märkte. Es wird denkbar, daß ein Medienkonzern eines nicht allzu fernen Tages, sagen wir, der Evangelischen Kirche in Deutschland, ein Angebot macht:

Wir kaufen euch den Laden ab. Ihr überlaßt uns das Recht, bei allen, die dem Zirkel noch angehören, Mitgliedsgebühren zu kassieren, wir werden die Werbung verbessern, wir übernehmen eure Altlasten, die Pensionen für viele tausend Pfarrer und Pfarrerinnen. Wir bekommen eure alten und neueren Versammlungsstätten, die für manches Entertainment noch brauchbar sind. Um die Weltherrschaft könnten, so gesehen, schließlich einige Medien-Konzerne kämpfen. Sie sind auch von Sekten, kultischen Bünden und esoterischen Großzirkeln durchsetzt. Sie bestimmen, wo die Kriege stattfinden, damit die Einschaltquoten stimmen.

Wir mögen zu Gott hoffen, daß es dahin nicht kommt. Aber denkbar ist dieses düstere Bild, wenn man nur einige Beobachtungen in der heutigen Szenerie der Medien mit einer negativen Konsequenz zuendedenkt. Dabei hätten die Kirchen eigentlich ganz gute Karten und besondere Chancen, die Medien für ihren Auftrag zu nutzen. Aber wie sehen sie diese Möglichkeit? Sie achten, so scheint es, mehr darauf, wie sie sich selbst durch neue Medien darstellen können, weniger auf die umwälzenden Veränderungen in den Lebensverhältnissen der Menschen, denen sie eine Botschaft schulden. Zu den Urbedürfnissen der Menschen gehört dreierlei:

Die Menschen möchten ein Selbstwertgefühl haben.
Die Menschen möchten kommunizieren.
Die Menschen möchten wissen, wo es lang geht.

Medienleute können darauf bauen. Sie könnten auch der Christenheit helfen, ihre Botschaft unter den Menschen auszurichten. Sie sind Spezialisten für die nicht personengebundene, die mittelbare Kommunikation, also die Kommunikation mit Hilfe von Medien.

Neue Heilsbotschaft

Was kommt auf uns zu? Wird es eine Welt der totalen Kommunikation sein? Das hieße auch: Man braucht das Haus nicht mehr zu verlassen. Jeder ist mit jedem vernetzt. Und die Programm-Macher sind die neuen Priester. Sie haben ohnehin in weiten Bereichen diese Rolle schon übernommen. In der christlichen Religion steht es Gott zu, den Menschen reich zu machen und als einzelnen herauszuheben. Er beschenkt den Menschen und gibt ihm seine Würde als Individuum. Die Kirchen vermitteln das offenbar nicht ausreichend. So haben Medien die Rolle Gottes übernommen. Hier hört der „Teilnehmer" die tägliche Predigt: „Nutze deine Riesenchance. Das Leben ist eine Lotterie. Bei uns gewinnst du. Bleib dran, du wirst reich, halte Ausschau nach unserem Joker und sage ein Stichwort, dann übergibt er dir die Geldscheine.“ Als seien Medien erschlossen worden, um Gewinne zu verteilen.

Auch Journalisten und Publizisten haben inzwischen, so scheint es, etliche Medien den neuen Priestern überantwortet. Diese walten ihres vermeintlichen Amtes und verkünden die neue Heilsbotschaft: „Wir bringen dich nach oben. Wir machen dich bekannt. Du wirst zur Prominenz gehören. Du kannst im Rundfunk sprechen. Ruf an, grüß deine Freunde. Du wirst eingeladen, du kannst Studiogast sein, du applaudierst, wenn der Moderator auftritt und alles ist in Ordnung. Vielleicht streift dich dann einmal eine Kamera.“ Und tatsächlich erzählen manche auch noch nach Jahren: „Ich war schon einmal im Fernsehen.“ „Du kannst“, sagen die Priester, „in einer Sendung für fünf Minuten richtig vorkommen, wenn du dein Innerstes entblößt, wenn du deine Exfrau runtermachst und zuläßt, daß diese dann mit ihrem Freund aus den Kulissen kommt. Wenn du dein Verbrechen noch einmal vor laufender Kamera schilderst, kommst du ins Programm. Wir bringen dich, sagen die Priester, auch wenn du nichts besonderes zu bieten hast, auf ein Plakat. Notier dir die Nummer zum Ruhm.“

„Oben“ sein, gerühmt werden - ist das nicht eine Position, die uns bekannt vorkommt? Früher war Gott „oben“.

Wer ist nun eigentlich sachverständig für diese Welt der Medien? Welcher Fachdisziplin muß einer angehören, der die Entwicklung überschauen, deuten, erklären soll? Oder gar eingreifen? Muß er Informatiker sein? Kommunikationswissenschaftler? Sollte er aus der Publizistik kommen, Theologe sein? Oder eher Pädagoge oder doch Philosoph und Mathematiker? Oder sind hier der Autor und Künstler gefragt? Sind diese Wissenschaften und Künste irgendwo systematisch verwoben oder wenigstens benachbart? Wo sind ihre Grenzen? Die bisher bekannten Maßstäbe, die Rollen, Berufe und Wissensgebiete geraten gründlich durcheinander. Die alten Abgrenzungen taugen nichts mehr. Wir bekommen ganz neue Kompetenzfelder. So ist es kein Wunder, wenn von elf neuen Ausbildungsberufen, die zum 1. August 1998 in Deutschland eingeführt wurden, vier allein in den Medienbereich fallen: Sie heißen „Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste“, „Fotomedienlaborant“, „Kaufmann für audiovisuelle Medien“ und „Mediengestalter“.

Ein interdisziplinäres Vorgehen herkömmlicher Art wird der Entwicklung nicht gerecht. Was wir brauchen, können wir vorerst weder in einem wissenschaftlichem Studium erwerben, noch aus diesem oder jenem Lehrgang oder Buch. Lernen mit allen Sinnen ist angesagt, rund um die Uhr. Dafür brauchen wir eine Voraussetzung: unser Interesse, also eine Aufmerksamkeit aus Wißbegierde.



Auf den Inhalt kommt es an

Fassen wir zusammen: Jahrhunderte lang lief öffentliche Kommunikation über Printmedien. So wird es auch bleiben. Vor Jahrzehnten kamen Medien wie Rundfunk und Fernsehen hinzu. Seit kurzem nun wieder neue Medien, die aus digitalen Verfahren erwachsen sind.

Alle diese Medien wachsen zur Zeit zu einer einzigen eng verbundenen multimedialen Welt zusammen. Text, O-Ton, Musik, Bild, Druck, Archiv, Funk und Film können künftig von einunddemselben „Pult“ angeboten und empfangen werden. Die Zeitung kann der Leser beispielsweise in wenigen Jahren zu Hause „ausdrucken“, aber nicht nur das: er kann sie auch nach seinem Belieben zusammenstellen.

Eine getrennte Betrachtung einzelner Medien ist also kaum noch sachgemäß. Nirgendwo ist so viel Neues zu lernen wie in den Kommunikations- und den publizistischen Berufen. Aber immer geht es darum, bestimmte Inhalte zu sammeln, zu sichten, zu prüfen, zu ordnen, zu redigieren, zu vervielfältigen, zu verbreiten, zu archivieren. Niemand, der sich Medien dienstbar macht, sollte sich von den faszinierenden Verfahren so ablenken lassen, daß er dies aus dem Auge verliert: Auf den Inhalt kommt es an. Nicht das Medium ist die Botschaft, sondern - natürlich - der Inhalt.

Daß diese Inhalte auch zubereitet werden müssen, wird oft vergessen. Daran hängen ganze Berufe. Wohl den Medienhäusern, die gute Autoren, Lektoren, Redakteure und Herausgeber, Männer und Frauen, haben, Medienarbeiter, die sich unablässig fortbilden.

Auch sie fallen nicht vom Himmel. Und wenn sie qualifiziert sind, bleiben sie es nicht automatisch. Sie müssen, wie in anderen Berufen auch, sich ständig um ihre fachliche Weiterbildung bemühen und trainieren: den aufrechten Gang im Mediengestrüpp, ihr Verhältnis zur Wahrhaftigkeit, aber auch schlicht ihr Verhältnis zur Muttersprache, die sich ständig wandelt und fortwährend neue Fallgruben auftut. Unsere Sprache wird wohl das hochrangigste Medium bleiben, ohne das die anderen Medien gar nicht erschließbar sind. Zudem werden Medienarbeiter auch um eine variantenreiche Sprache bemüht sein, nämlich um eine Sprache, die sich für das jeweilige Medium eignet.


Humanisierung ist möglich

Manche fürchten eine inhumane Entwicklung, weil persönliche Begegnungen und Gespräche durch das Gewicht der Medien abnehmen. Aber Dialog und mündliche Erörterung sind keine Werte an sich. Sie können auch trickreich mißbraucht werden. Unserer Kommunikation haftet stellenweise noch etwas Mittelalterliches an: Vor Gericht hat zum Beispiel die mündliche Aussage einen unangemessen hohen Rang, obwohl sie ja in der Regel weniger bedacht, emotional gesteuert und unpräziser formuliert ist als das bei einer schriftlichen Äußerung möglich wäre. Du mußt eine mündliche Aussage machen, also ein Zufallsprodukt darbieten, obwohl du viel genauer formulieren und etwas von dir geben könntest, was man dir hinterher nicht umdreht. Die hohe Wertschätzung der mündlichen Kommunikation stammt aus einer Zeit, in der die weitaus meisten Menschen gar nicht lesen und schreiben konnten. Die Neuzeit hat also in wichtigen Lebensbereichen noch gar nicht so richtig angefangen. „Falsch Zeugnis“ ist schneller und leichter gesagt als geschrieben. Jeder kennt wohl Menschen, die allein mit ihrer Art zu atmen, andere verleumden, ganz zu schweigen von der gehässigen bis zynischen Modulation einer, wörtlich genommen, unangreifbaren Aussage.

Wenn gesellschaftliche Kommunikation von mittelalterlichen Rückständen, also einer Verdammung zum Mündlichen fürs „einfache Volk“, befreit wird, ist das nicht nachteilig. So gesehen, können demokratisierte Medien sogar zur Humanisierung des gesellschaftlichen Lebens beitragen.

Etliche Kritiker der Entwicklung weisen noch auf eine andere Gefahr hin: Es könnte eine neue Klassengesellschaft entstehen, in der Menschen mit Medienkompetenz den Menschen ohne Medienkompetenz unterlegen sind. Wenn man jedoch sieht, wie begeistert heute schon Schüler die neue Kulturtechnik, den Umgang mit Netzen, Speichern, Datenbanken erlernen und nutzen, kann man wohl darauf vertrauen, daß keine „Klasse“ derer entsteht, die weniger Zugang zu Informationen und medialen Möglichkeiten haben. Zu achten wäre darauf, daß der Umgang mit Computern nicht eine neue geschlechterspezifische gesellschaftliche Trennung bringt. Oder eine Trennung nach Generationen. Viele ältere Menschen haben sich vorgenommen, daß sie sich in diesem Leben auf digitale Medien nicht mehr einlassen.

Welchen Rat kann man einem jungen Menschen geben, der sich auf das Berufsleben vorbereiten möchten? Heute wie vor 50 Jahren gilt: gehe hin und lerne, was man früher unter Schreibmaschineschreiben verstand, also mit 10 Fingern „blind“ eine Tastatur benutzen. Das Alphabet ist übrigens noch genauso über die Tasten, auch des Computers, verteilt, wie damals, als deine Großmutter Sekretärin wurde. Was uns dargeboten wird, geschieht weiterhin auf „Seiten“. Eine der kompetenten Fachzeitschriften heißt „Page“. Wir sprechen auch von Bildschirmseiten oder - im Internet - von WEB-Seiten. So erleben wir auch hier: Beides ist richtig - vieles verändert sich und zugleich bleibt vieles so, wie es war. Auch der Mensch mit seinen zwei Gesichtern.

Die neuen Verhältnisse werden den Menschen nicht grundsätzlich ändern. Er wird weiterhin weder durch und durch gut noch durch und durch böse sein. Wie eh und je wird er zugleich mehr oder weniger gut und mehr oder weniger böse sein: so wie ihn
die Bibel charakterisiert, erlösungsbedürftig eben und sterblich. Obwohl auch daran schon gedreht wird.

Die Menschen werden zu Beginn des 21. Jahrhunderts neue Vorstellungen über Raum und Zeit entwickeln - sie sind schon dabei. Sie werden über ihren eigenen Wert anders denken als bisher - sie sind schon dabei. Sie werden über Allmacht und Allgegenwart, also Prädikate, die Menschen vergangener Jahrhunderte allein Gott zugeschrieben haben, neue Erkenntnisse gewinnen - sie sind schon dabei.

Die Medien von morgen sind die Medien von heute. Sie stehen uns schon zur Verfügung.



© Wolfgang Fietkau

Dieser Artikel ist veröffentlicht in „Mythos Jahrtausendwechsel“, Beiträge aus Wissenschaft, Religion und Gesellschaft, herausgegeben von Norbert Sommer (nach einer Sendereihe im Saarländischen Rundfunk), Wichern-Verlag, Berlin, 1998


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