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Was heißt hier Bildung

Kritisches zu einem Dauerthema.

Nur wenige Worte sind „an sich“ schon so positiv geladen wie das Wort Bildung. Wer es gebraucht, dem ist der Beifall sicher. Er darf nur nicht dagegen sein. Aber wenn er Bildung fordert, wird er gelobt. Wenn er sagt, daß zu viele zuwenig davon haben, macht er sich Freunde. Das Schöne ist ja auch, daß ein Redner die Bildung immer für andere fordert, nicht einmal für seine Zuhörer (die würden ihm was!), nein, für Dritte, für Abwesende. Und wer für Abwesende etwas fordert, der kann es doch nur gut meinen. Der ist wie ein Brotverteiler. Allerdings: Brot, das wäre schon etwas, in Brot kann man beißen. Aber Bildung? Die Probleme beginnen bei diesem Begriff. Er ist abstrakt und unscharf, eine Nebelkerze sondergleichen.

„Die Anwesenden ehrten den hohen Gast durch die Bildung eines Spaliers“, so las ich einmal. In diesem Satz ist erstens von Bildung die Rede, und zweitens ist er stilistisch mangelhaft. Wer so schreibt oder spricht, dürfte also kaum ein Gebildeter sein, sofern man von einem Gebildeten erwartet, daß er über einen geschmeidigen Sprachstil verfügt.

Bleiben wir beim Verfasser des Satzes und bleiben wir bei seiner „Bildung". Vielleicht gehen wir zu weit, wenn wir ihn ungebildet nennen. Nicht wegen seines monströsen Satzes. Fragen wir, ob es überhaupt jemals einen ungebildeten Menschen gegeben hat. Die Antwort heißt: Nein, den kann es gar nicht geben. Es gibt nur Gebildete; denn keiner auf und unter der Erde blieb das menschliche Gebilde, als das er einmal in diese Welt hineingeboren wurde. Dieses bildbare Gebilde verändert sich und wird verändert, je nachdem, mal so, mal so, aber jedenfalls ständig. Und mit Eltern, Kindergärten oder Schulen hat das alles noch gar nichts zu tun. Man braucht ja wohl nicht im einzelnen auszuführen, wie dieser „Bildungs"-Prozeß anhebt und verläuft, daß sich Knochen bilden und Muskeln und Zähne, daß dieser Prozeß sich aber „natürlich" nicht nur auf das Physische beschränkt, sondern auch den Willen, das Erinnerungsvermögen oder das Sprachempfinden ergreift oder vernachlässigt.

Erinnerungsvermögen und Sprachgefühl des eingangs zitierten Zeitgenossen wurden bei diesem Bildungsprozeß vielleicht nur ein wenig vernachlässigt. Aber deshalb ist er nicht ungebildet, nicht mehr ungebildet, nicht mehr so ungebildet wie noch am Tag, bevor er diesen Satz schrieb; denn jeder Tag bildet einen Menschen, minimal vielleicht, aber wahrnehmbar für den, der es versteht, die Menschen oder womöglich sogar sich selbst zu beobachten. Also ungebildet ist er nicht, der Zitierte, er könnte sogar hoch gebildet sein, ein geschickter Taschendieb vielleicht oder ein As im Faulenzen, oder wozu der Mensch sich sonst noch bilden, heranbilden oder ausbilden kann oder läßt. Er kann in vielerlei gebildet sein, nur in zweierlei ist er, wie sich gezeigt hat, „bildungsmäßig“ mäßig: im Erinnerungsvermögen und im Sprachgefühl.

So empfindet er nichts von der Pein, die andere empfinden, denen der Satz auf den Sprachnerv drückt. Und deshalb erinnert er sich nicht daran, daß ihm schon mehrmals nahegelegt wurde, solche Wörter auf -ung zu meiden. Hätte ihn sein Sprachgefühl gewarnt, dann wäre er mittels seines Erinnerungsvermögens darauf gekommen, was allerlei Lehrer statt dessen empfehlen: Das Verb voll Saft und Kraft, aus dem das Wort mit -ung gebildet ist, also von „bilden“ zu sprechen.

Unser Freund hätte also gesagt, daß die Anwesenden ein Spalier bildeten, und schon hätte man sie gesehen, die Anwesenden, wie sie sich aufbauten, Schulter an Schulter zum Spalier. Man hätte sie gesehen, sie und was sie taten. Beinahe so gesehen, als wäre man dabeigewesen. Und danach hätte der Gute es sich sogar leisten können, von einer Bildungslücke zu reden, man hätte sie gesehen, hätte gewußt, es fehlte einer, das Spalier hielt nicht dicht. Erst wenn er bilden sagt, hört man die Kleider rascheln und die Sohlen auf dem Sand knirschen, sieht man seitwärts gerichtete Gesichter, dem hohen Gast entgegen.

Immerhin gelang es dem Zitierten, obwohl er Bildung sagte, wenn auch nicht so plastisch, wie es ihm zu wünschen wäre, seine Zuhörer merken zu lassen, daß er etwas Bestimmtes meinte, wenn er Bildung sagte. Er sagte ihnen, was gebildet wurde, nämlich ein Spalier. Und er sagte, wer es bildete, nämlich die Anwesenden. Aber was diesem Gebildeten gerade noch gelang - wem gelingt es sonst? Wer von allen, die Bildung sagen, setzt das Wort so, daß man weiß, was gemeint ist. Mit dieser Vokabel läßt sich ja ein Feuerwerk an den Himmel schießen, das die Zuhörer und Zuschauer nur so bestaunen. Aber wer von allen, die ah! rufen, wenn die Funken sprühen, hat schließlich mehr in der Hand als ein paar Fussel Asche?

Wer Bildung fordert, sagt nichts. Das Wort Bildung trägt keine Aussage. Wer Bildung fordert, sagt damit nicht mehr, als wenn er Fortfall oder Schaffung oder Zerstörung fordert. Geradezu spaßig und damit entlarvend wird es, wenn man Fortfall, Schaffung oder Zerstörung mit dem Wort -Misere koppelt oder -Paket.

Aha, mag mancher denken, jetzt will uns einer durch die kalte Küche mit der einklassigen Dorfschule kommen. Das zwar nicht. Aber weil wir nun bei der Schule sind: Sie, und sei es die beste, bringt nur ein Teilchen der „Bildung“ zustande, die ein Mensch erfährt. Das sollten die Redner sagen, wenn sie von Bildung reden. Sie sollten sagen, daß sie ein Teilchen meinen, wenn sie von der Bildung reden, die sich forcieren läßt, von der Schulbildung, der Ausbildung, der Fachbildung. Von einem wichtigen Teilchen, von der Spezial-Bildung der Gebildeten; denn der Sechsjährige ist gebildet, wenn er in die Schule kommt, so gebildet, wie es sich für einen Sechsjährigen gehört, sonst würden sie ihn gar nicht „einschulen“. Deshalb gibt es auch keine „abgeschlossene Bildung". Welch ein Unfug, von der abgeschlossenen Oberschulbildung oder von einer abgeschlossenen Hochschulbildung zu reden. Wenn eine Hochschulbildung jemals abgeschlossen sein könnte, welchen Sinn sollte sie dann überhaupt haben?

Das schöne und menschenfreundliche Reden von Bildung, das zumeist die Ausbildung, die forcierte Bildung, an die Stelle von Bildung „überhaupt" setzt, sollten wir einmal auf seine Menschenfreundlichkeit untersuchen. Es könnte sich dabei herausstellen, daß die „Bildungs“-Verfechter, die mehr Wissen, mehr Können erwarten, die also Bildung mit Ausbildung verwechseln, daß sie ein Ziel verfolgen, das wenig human ist; denn es bleibt ja fraglich, wem damit gedient ist, wenn Menschen so lange „gebildet“ werden, bis sie nur in einem engen Bereich ihres Lebens hochsensibel funktionieren.

Bildung - man sollte nicht hinnehmen, daß dieses Wort wie eine Süßigkeit herumgereicht wird, wie ein Bonbon; jeder darf daran ein bißchen weiterlutschen. Wir sollten herausfinden, wer damit etwas aussagt und wer das Wort nur benutzt, um Beifall zu ernten. Ein paar Fragen könnten dabei helfen, Fragen an Redner, die von Bildung und Bildungsmisere oder gar von Bildungspaketen reden.

Man sollte sie fragen: Was heißt hier Bildung? Was heißt bei dir Bildung? Wer bildet wen (oder was) wozu? Nach welchen Bildern soll wer gebildet werden? Nach welchen Vor-Bildern? Sind alte Bildungs-„Ideale" überholt? Welche? Gibt es neue? Wie unterscheidet sich Bildung von Wissen und Können? Wie weit ist Bildung zum Zweck menschenwürdig? Was darf man von der Bildung beispielsweise eines Lernbehinderten halten? Wessen Bildung ist beispielhaft? Was bildet stärker, spielen oder studieren? Oder gar „herumhängen“ und Leute beobachten? Ist im Bilde sein gebildet sein? Wer ist im Bilde? In welchem Bilde? Sind wir gar Ebenbilder? Und wessen? Bin ich so ein Bild? Oder werde ich so ein Bild? Wäre das Bildung? Wenn ja, was heißt das? Wenn nein, was sonst ist Bildung?

Laßt euch über Bildung nichts Nebulöses erzählen. Fragt sie. Zwingt sie, deutlich zu werden.



Wolfgang Fietkau


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Kopf hoch, ihr Turner, 2009
Deutschland, deine Schlupflöcher