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Hüben und drüben

Deutschlandfunk, 13. August 1987.
Zum Beispiel. Aus dem täglichen Leben. Heute: Hüben und drüben


„Wir kommen nämlich von drüben“ höre ich gelegentlich. Und dann weiß man hierzulande, dass man es mit Leuten aus der DDR zu tun hat. Dieses „Drüben“ ist ein Ersatzwort für den anderen Staat geworden. Jedenfalls für alle, die nicht sagen wollen, dass es sich um einen anderen Staat handelt. Im Guten wie im Bösen spricht man von „drüben“: Die Brüder und Schwestern drüben, so plappern immer noch einige, die solle man doch nicht vergessen. Oder engagierte Diskutanten und Demonstranten wissen ein Lied davon zu singen, wie oft man ihnen zugerufen hat: Geht doch nach drüben.

Geht man dann nach drüben, besuchsweise jedenfalls, dann stellt man fest, dass dort ebenfalls von „drüben“ gesprochen wird: Drüben ist ja auch nicht alles so rosig, wie manche meinen, und der Erwin ist letztes Jahr „nach drüben gemacht“. Drüben - das ist die jeweils andere Seite in Deutschland, immer dann, wenn man sich nicht auf eine amtliche Bezeichnung festlegen will, und viele wollen sich nicht festlegen. Sie sagen: im Osten, im Westen, bei uns, bei euch; sie sagen „hier“ und sagen „drüben“.
Dieses "Drüben" hat einen anderen Sinn, je nachdem, ob es in Leipzig oder in Hannover gesagt wird, in Schöneberg oder Pankow.

Natürlich hören Leute, die in der Nähe der deutsch-deutschen Grenze, also zum Beispiel in Berlin, leben, dieses merkwürdige „drüben“ öfter als andere. Lange Zeit klang es abwartend, verständnislos. Es beschreibt ja auch einen absurden Zustand. In jüngerer Zeit scheint hüben und drüben das Verständnis für größere geschichtliche Zusammenhänge zu wachsen. Es gibt zwei deutsche Staaten und es gibt die Berliner Mauer - so die vielerorts dämmernde Einsicht - nicht einfach deswegen, weil ein kommunistisches Regime nach dem Kriege oder 1961 sich so rigoros abgegrenzt hat, um seine Macht zu sichern. Es gibt die deutsche Teilung und in ihrer Konsequenz auch dieses längliche Berliner Bauwerk aus Gründen, die weiter zurückliegen. Ohne den von Deutschen angezettelten Zweiten Weltkrieg gäbe es die Teilung dieses Landes nicht, und ohne den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion nicht die Mauer in Berlin. Wer also allein Kommunisten in Moskau und Ost-Berlin für das Hüben und Drüben in Deutschland verantwortlich macht, tut so, als habe die deutsche Geschichte erst 1945 begonnen - mit einem Volk aus ahnungslosen Engeln, die sich unbegreiflicherweise nicht völlig frei entfalten konnten. Mit der Einsicht in diese Zusammenhänge, hüben wie drüben, steigen die Chancen dafür, dass die deutsche Geschichte über die Nachwirkungen der Nazizeit hinauskommt, die Folgen der deutschen Verbrechen absehbar werden.

Wie jedes Ding hat auch die Berliner Mauer zwei Seiten. Und auf eine unterschiedliche Weise nagt auf jeder Seite der Zahn der Zeit. Hüben ist dieses Bauwerk bunt bemalt und beklebt, es ist begrünt, parkartige Spazierwege und Radwege führen unmittelbar daran entlang. Sie ist beinahe wohnlich gemacht, erträglich, diese Mauer. Man hat sich mit ihr eingerichtet, obwohl sie viele Jahre hindurch auch hüben als Kultgegenstand fungierte: Jeder prominente Besucher wurde herangeführt und vollzog das erwartete Ritual, erklärte seine Verachtung für das, was sich ihm darbot, und verurteilte das Regime, das derart Unmenschliches errichtet habe. Inzwischen gucken die Besucher nur noch, nachdenklich, weil dieses Monument so leichtfertig flink wohl nicht zu erklären ist.

Und drüben ist das sogenannte Bollwerk grau und unberührt. Die Flora wird kurz gehalten. Nur die Fauna kümmert sich wenig um dieses menschliche Gemäuer. Vögel und Schmetterlinge fliegen respektlos von hüben nach drüben und umgekehrt - als flögen sie von einem Schrebergarten in den anderen. Und wilde Kaninchen fühlen sich heimisch im Gelände an der Mauer - beziehungsweise von hüben gesehen; hinter der Mauer. Diese Karnickel nutzen ein Reservat, das ihnen in einem so langen Gürtel quer durch eine Großstadt eigentlich nicht zustehen sollte, vermehren sich ungeniert, wühlen in tausend Strängen ihr Röhrensystem in den streng bewachten märkischen Boden.

Wenn viele wissen und sich danach richten, dass die Mauer eine Quittung für die deutsche Nazivergangenheit ist, kann sie wohl überflüssig werden. Weil dann auch die Reste der hitlerischen Zielvorstellungen aus den Köpfen der Deutschen hüben so wie drüben heraus wären. Vielen dämmert es zur Zeit, wie wichtig es wäre, in den nächsten Jahren ein neues Verhältnis zu den Völkern der Sowjetunion zu finden. So könnten die schlimmsten Folgen an der deutsch-deutschen Grenze Vergangenheit werden. Ich denke: Auch die Berliner Mauer.

Reste von ihr wird man - in dreißig, in fünfzig Jahren? - unter Denkmalschutz stellen. Wir werden es schwer haben, unseren Enkeln und Urenkeln zu erklären, dass es „so etwas“ gegeben hat.

© Wolfgang Fietkau


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Berlin, November 1989
Folklore, Spott und Predigt