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Berlin, November 1989

Als das Zusammenwachsen begann
Die Sicht von damals


Alle Welt hat gewußt, daß die Mauer nicht ewig bestehen wird. Aber niemand hat gewußt oder es auch nur für möglich gehalten, daß sie so schnell außer Kraft gesetzt wird. Und dies scheinbar auch noch so einfach: Weil die Stunde geschlagen hat, nicht durch irgendeine geschickte Ostpolitik des Westens, nicht weil hier irgendwelche Schlaumeier recht hatten, obwohl es nun viele schon immer gewußt haben wollen, sondern weil wochenlang in Leipzig und Ost-Berlin und in anderen Städten der DDR die Menschen einen Mut aufbrachten, den man sich hier im Westen wohl gar nicht vorstellen kann. In Leipzig haben sie, wie mehr und mehr ruchbar wird, am 9. Oktober unbewaffnet ihr Leben eingesetzt, haarscharf an einem Massaker vorbei.

Die Geschwindigkeit, mit der die Mauer zerbröselt, erregt natürlich dort die Menschen besonders, wo rundum viel Mauer steht: In Berlin, Ost und West. Für das Ende des Wahnsinns finden viele nur ein einziges Wort „Wahnsinn, einfach Wahnsinn“. Die Tränen sitzen locker in diesen Tagen, auch bei erprobten Moderatoren vor laufender Kamera. Plötzlich steht Berlin nach vielen Jahren wieder im Mittelpunkt des Weltinteresses, wie 1948 zur Blockade, wie 1953 zum Volksaufstand, wie 1961 zum Bau der Mauer. Diesmal jedoch mit umgekehrten Vorzeichen. Noch nie hat Berlin einen so großen Freudentaumel erlebt, wie am 9. November und in den Tagen danach.

So etwas wie eine Stunde Null

Noch sind viele in dieser Stadt ein bißchen benommen, sind „wie die Träumenden“. Das Tempo der sensationellen Nachrichten und der Überschwang der Gefühle haben sie überrannt. Wahrscheinlich haben manche noch gar nicht begriffen, was angesagt ist, wie tief der gegenwärtige Einschnitt in die Geschichte der früheren deutschen Hauptstadt geht. Man ahnt, daß die Stadt an der Spree so etwas wie eine Stunde Null erlebt, die Herausforderung zu einem Aufbruch sondergleichen.

Noch ist nicht genau sichtbar, was das im einzelnen bedeutet, wo es lang geht. Aber so, wie die Stadtpläne plötzlich nicht mehr stimmen, weil die zahlreich und hastig eröffneten neuen Grenzübergänge oder die über die Grenze verlängerten Linien des öffentlichen Nahverkehrs zwischen West und Ost darin fehlen, so stimmt vieles nicht mehr, was noch vor wenigen Wochen galt. Rundfunkanstalten, die sich einst spinnefeind waren und den kalten Krieg im Äther austrugen, machen gemeinsame Sendungen.

Die West-Berliner, so zeigt sich, reagieren unterschiedlich auf die veränderte Situation. Die Jüngeren und die Neu-Berliner aus den letzten 25 Jahren finden die Welt, in der sie großgeworden sind oder die sie zu ihrem Wohnsitz gemacht haben, nicht mehr in der Ordnung, die sie kennen und immer gekannt haben. Berliner, die 40 und älter sind, sich erinnern an die ungeteilte Stadt in der Weimarer Zeit, an die sogenannte Reichshauptstadt der Nationalsozialisten, an Bomben, Hunger und Kälte, an vier Sektoren und Luftbrücke und 17. Juni und 13. August - diese zwei Generationen sind erkennbar in einer anderen Weise betroffen.

Nostalgie, Trauer, Hoffnung

Sie haben wohl durch die Bank ein Zusammenwachsen der Stadt zu ihren Lebzeiten nicht mehr erwartet. Bei ihnen kommt Nostalgie auf, Trauer und Hoffnung, plötzlich sind bei ihnen Verletzungen bloßgelegt, die sie sich nie richtig eingestanden haben. Zwar ist in Berlin bisher noch nichts richtig zusammengewachsen, aber die vehementen Anzeichen dafür, daß das möglich ist, setzen bei denen, die sich erinnern, viel Phantasie frei.

Auch ihnen ist klar, daß die Stadt am Ende des Jahrhunderts keine Ähnlichkeit mit irgendeinem ihrer früheren Gesichter haben wird. Aber denkbar ist nun, daß die entstellende Grenze dann nicht mehr den städtischen Organismus so total zerschnürt wie bis zum 9. November 1989.

Das Berlin-Trauma ist bei vielen offenbar stärker als man es wahrhaben will. Das zeigt gerade die Reaktion der älteren und mittleren Generation auf die Erschütterung der befestigten Grenze. Natürlich geht einem die ganze Künstlichkeit auf die Nerven, mit der die Stadt, die westliche Halbstadt, am Leben gehalten werden muß. Daß Berlin-Werbung nötig ist, zeigt: die Stadt ist alles andere als ein Magnet. Da gibt es auch die fürchterlichen Verklemmtheiten bei denen, die nicht „BRD“ und „Berlin“ nebeneinanderschreiben können, oder die hier statt von „Westdeutschland“ nur vom „übrigen Bundesgebiet“ sprechen und andere zu sprechen zwingen wollen. Jahrzehntelang ging es ums Überleben dieser Stadt, jetzt könnte ganz langsam ein Leben wieder anfangen. Dazu gehört, daß diese Großstadt wieder Metropole werden kann.

Wieder Metropole werden

Vielleicht ist West-Berlin die einzige Zweimillionenstadt mit provinziellen Zügen. Das liegt daran, daß die umliegenden Provinzen, die eine Metropole erst zur Metropole machen, nicht mehr mit ihr verbunden sind. Diese Provinzen haben ihre Metropole in Ost-Berlin. So hat man im Westen der Stadt, da Provinz nun einmal dazugehört, in den eigenen Grenzen manches Provinzielle kultiviert.

Von westdeutschen Freunden hören Berliner oft die Frage, ob man in Berlin denn leben könne. Muß man da nicht dauernd Angst haben? Aber nein, hören sie, man kann hier leben, gut leben sogar und manche meinten bisher schon: Besser leben als irgendwo sonst in Deutschland. Für ein Berlin mit offenen Grenzen gilt das erst recht. Über die ungünstigen Entfernungen von Berlin zu Städten in Westdeutschland täuscht man sich oft. Wer von München nach Hamburg oder von Stuttgart nach Hannover will, ist schlechter dran als einer der diese Ziele von Berlin aus erreichen will. Ein vermeintlicher Standortnachteil, der als Nachteil schon immer überschätzt wurde, könnte sich nun erst recht zum Vorteil wandeln.

Was könnte Berlin in einen großstädtischen Aufbruch einbringen? Zum Beispiel dies: Nirgendwo sonst in Deutschland leben so viele Menschen, die so viele verwandtschaftliche und freundschaftliche Verbindungen ins jeweils andere Deutschland hinein haben, wie in Berlin. Nirgendwo sonst auch findet ein so rascher „Umschlag“ der Bewohner statt. Nirgendwo in Deutschland wachsen so viele Menschen heran, die nie in ihrem Leben Soldat waren oder eine militärische Ausbildung hatten wie in West-Berlin. Das bleibt nicht ohne Einfluß auf Gesten und Sprache der Menschen in dieser Stadt. Welche Funktion auch immer jemand für das westliche Berlin ausgedacht hat - Kulturzentrum, Luftkreuz, Scharnier - und was auch immer damit gemeint gewesen sein mag: Bei geöffneten Grenzen und im Zusammenwirken der beiden unterschiedlichen Halbstädte wird ein Schuh daraus.

Das bloße Dürfen

Die überschwengliche Freude über offene Grenzen wird abklingen, der deutsch-deutsche Grenzverkehr kann bald zum normalen Alltag gehören. Wie immer, wenn Änderungen ins Haus stehen, melden sich auch Ängste an. Natürlich sind manche in West-Berlin jetzt lieber zu Hause geblieben als der Massenbesuch aus dem Osten kam. Sie haben Einkäufe zurückgestellt, weil ihnen das zu wimmelig war. Natürlich klagen manche über den Kahlschlag bei Obst, Gemüse, Klein-Elektronik und Pornoblättern. Natürlich fragen manche neidisch, wieviel denn geschummelt wurde mit den Pässen als das Begrüßungsgeld kassiert wurde. Und natürlich sagen manche, wenn es in Potsdam für jeden Besucher unter Berücksichtigung des Währungsgefälles tausend Mark abzuholen gäbe, dann wäre auch Kreuzberg leergefegt und alle wären in Potsdam. Man will also wissen, was ohne besondere Anreize übrigbliebe vom grenzüberschreitenden Massenverkehr. Aber starke Anreize liegen auch woanders: Im bloßen Dürfen endlich, im Sehen, im Abenteuer einer solchen Reise.

Die Frage der Fragen in Interviews und Privatgesprächen mit DDR-Besuchern im Westen war seit dem 9. November: Geht ihr denn auch wieder zurück? Und im Osten wie im Westen war man erleichtert darüber, daß fast alle dies bejahten. Na also, heißt es bei den Fragern auf beiden Seiten, dann kann die Grenze ja auch offen bleiben. Dies war das Risiko, das man eingegangen war. Noch aber ist nicht aller Besuchstage Abend. Es ist absehbar, daß viele, die sich ihre Abwanderung aus der DDR bisher nicht vorstellen konnten, nach den ersten Erfahrungen mit der Kaufkraft der Westmark, solche Vorstellungen allmählich entwickeln und nicht Halsüberkopf sondern gut vorbereitet ihren Übertritt in den Westen ins Auge fassen, zumal dies in Berlin mit verschiedenen Einzelschritten von der Schwarzarbeit über das Pendeln bis zum vorübergehenden oder dauernden Bleiben nun wohl möglich wird.

Auch daran kann dem Westen wie dem Osten gelegen sein, wenn man beiderseitige Interessen zur Deckung bringt: Gibst du mir Facharbeiter, gebe ich dir Ärzte. Nur: Der Einzelne, der seine Freizügigkeit nutzen will, richtet sich dabei nicht nach übergeordneten arbeitsmarktpolitischen Interessen. Er denkt notwendigerweise an sich.

Die DDR als Markt

Viele fürchten und manche hoffen, daß die DDR bei alledem wirtschaftlich noch ins Schwanken und einem Zusammenbruch nahekommt. Doch, so kritisch ihre wirtschaftlichen Verhältnisse derzeit auch sind: Das liegt wohl ferne. Denn wir leben in einer Zeitenwende, in der manche bisher alles bestimmende Glaubensfragen von Wirtschaftsfragen abgelöst werden. Das ist im Westen so wie im Osten. Deshalb werden die westlichen Nachbarn der DDR so oder so eine Lösung finden, die DDR wirtschaftlich nicht zusammenbrechen zu lassen, weder durch den viel beschworenen „Ausverkauf“ noch anders. Was im Westen wie im Osten interessiert, ist die DDR als Markt. Und den wird man gerade auch vom Westen her erhalten und womöglich gar pflegen.

Inwieweit oppositionelle Gruppen der DDR dem Aufbruch zu neuen Ufern auch andere als wirtschaftlich bestimmte Ziele beigeben können, wird sich zeigen. Ihr idealistisches Aufgebot müßte, wenn etwas hängen bleiben soll, aber wohl höher sein als das der westlichen Apo zwanzig Jahre zuvor. Immerhin sind die Voraussetzungen „drüben“ nicht schlecht. Dort fehlt das soziale Gefälle, das die westliche Welt charakterisiert. Zwar kennt man in der DDR Privilegien, aber es gibt kein Ganz-oben und kein Ganz-unten.

Grandioses Lehrstück

So erleben wir in Berlin schon jetzt ein grandioses Lehrstück: Wie das ist, wenn man zu wenig erwartet. Wie schnell Vertreter einer arroganten und korrumpierten Macht, die sich lebenslang im Sattel wähnten, davongejagt werden können, wenn nur viele beharrlich dagegenhalten.

Berlin hat eine große Chance. Dieser Stadt wird, wenn sie sich auch nur ein bißchen geschickt anstellt, eine Schlüsselrolle beim Zusammenwachsen Europas zufallen. Eine Chance ist es wohl auch für die Bundesrepublik, daß sie dieses West-Berlin hat, ein Verbindungsstück zwischen Westeuropa und einem sich rasant entwickelnden Osteuropa. Die viel beschworenen Zwanziger Jahre in Berlin könnten durch die Neunziger noch übertroffen werden: Mit offenem Ausgang, versteht sich.

© Wolfgang Fietkau

Der Artikel erschien am 24. 11. 1989 im „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt“.


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Hüben und drüben