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Ein ordentliches Quartier

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Es ist ein Junge, denkt der Mann, ein gesunder Junge. Eben hat das Kind noch geschrieen. Jetzt ist es ruhig. Der Mann sitzt vor dem Eingang einer Hütte. Da drinnen schlafen sie: Das Kind und die Frau. Mirjam heißt sie. Manche sagen Maria zu ihr. Und die Familie, der die Hütte gehört, schläft auch da drinnen.

Der Mann sitzt da, denkt an den Sohn und atmet langsam die Luft ein, die nach Vieh riecht und Blumen. Im Ort ist alles ruhig. Er heißt »Haus des Brotes«: Bethlehem. Aus wenigen Fensteröffnungen kommt der Schein von Öllampen. Der Mann lehnt sich mit dem Rücken an die Lehmwand des Hauses. Er denkt an den Sohn, der auch einmal solche Häuser bauen wird, wie er.

In Nazareth stehen die Hütten, die Joseph gebaut hat. Man nennt ihn Zimmermann, aber in seinem Beruf muß man ein Bauhandwerker sein, der alles kann, was beim Bau nötig ist: Balken behauen und Steine, Fundamente legen und Ecksteine setzen, Mauern hochziehen und verputzen, den Lehm auf den Boden stampfen und über das Dach walzen. Vor einigen Wochen hatte er sich mit Mirjam auf den Weg gemacht. Hundertfünfzig Kilometer mußten sie reisen, von Nazareth nach Bethlehem. Er ritt auf einem Esel und Mirjam, die das Kind erwartete, ging nebenher zu Fuß. So war das üblich.

Sie brauchten Wochen, bis sie hier waren. Durch Städte und Dörfer zogen sie, über Berge und durch Täler. Manchmal wurde die Straße so eng, daß Mirjam nicht mehr neben dem Esel gehen, sondern nur noch hinterherlaufen konnte. Seit einer Woche waren sie nun in Bethlehem. Hier warteten sie auf römische Beamte. Bei ihnen mußten sie sich anmelden und eine Steuererklärung abgeben. Dann wollten sie nach Nazareth zurückkehren. Seit heute morgen wußten sie, daß sie auch das Kind hier erwarten konnten. Am späten Abend war es dann soweit. Die Frau aus der Hütte stand Mirjam bei der Geburt bei. Das Kind zappelte und schrie zuerst.

Ein Sohn war es also, ein gesunder Junge. Joseph dachte immerzu an ihn. Und er dachte an eine Nacht in Nazareth, in der er geträumt hatte: Das Kind wird ein Sohn. Diesen Traum hatte er die ganze Zeit über nicht vergessen. Nun lag dieser Sohn quicklebendig in der Hütte. Er schlief dort und Mirjam auch. Es war ein Glück, daß der Junge nicht früher gekommen war, als die beiden noch unterwegs waren und jede Nacht in einem anderen Ort schlafen mußten. Hier waren sie zwar nicht zu Hause, aber sie hatten doch eine Zeitlang ein ordentliches Quartier.

Sie wohnten bei einfachen Leuten. Der Mann war ebenfalls Bauhandwerker. Aber er hätte Joseph auch aufgenommen, wenn er aus einem anderen Beruf gekommen wäre. Es waren ja allerhand Leute unterwegs. Sie befolgten die Anordnung der römischen Behörden. Jeder mußte in das Dorf oder in die Stadt reisen, aus der seine Familie stammte. Viele wohnten zwar noch dort, wo sie und ihre Vorfahren geboren waren, aber manche hatten sich, wie Joseph, auf die Reise gemacht, und wo sie sich einfanden, nahm man sie höflich auf. Die Einwohner wußten ja Bescheid: Wer kommt, der gehört eigentlich hierher, vielleicht kennt ihn dieser oder jener Nachbar noch oder wenigstens seinen Vater. Vielleicht hatte der Mann, der sich hier melden mußte, in Bethlehem noch einen alten Garten oder ein Stück Feld. Und wenn man schon jeden Fremden höflich aufnahm, dann erst recht die bekannten und unbekannten Söhne des Ortes.

So hatte der Mann, dem die Hütte gehörte, die beiden einfach angesprochen, den Zimmermann Joseph und seine Frau Mirjam, die es auf dem letzten Wegstück, den Berg hinauf nach Bethlehem, schwer gehabt hatte. Schließlich erwartete sie ein Kind. Das sah man ja. Der Mann war auf Joseph zugegangen: »Friede sei mit dir«, hatte er gesagt, und Joseph grüßte zurück: »Der Herr sei dir gnädig.« Und dann hatte der Mann sich verneigt und gesagt: »Mein Herr, geh doch nicht an dieser Hütte vorbei, kehre bei mir ein mit deiner Frau, ihr könnt hier wohnen, solange ihr in Bethlehem zu tun habt. Wir leben bescheiden, aber was wir besitzen, soll euch ebenfalls gehören, solange ihr hier seid. Nehmt meine Hütte als Herberge. Ich schicke meine Frau gleich zum Wasserschöpfen, damit ihr euch die Füße waschen könnt.«

Joseph war abgestiegen, hatte sich ebenfalls verneigt und die Einladung angenommen. Er konnte gar nicht ablehnen, dann hätte er den Mann beleidigt. Die Hütte war niedrig und hatte ein flaches Dach. Joseph mußte den Kopf einziehen, als er durch die Tür eintrat. Innen konnte er zunächst nicht viel erkennen. Das ganze Haus hatte, wie viele Häuser in der Nachbarschaft, nur einen einzigen Raum. Am anderen Ende war ein kleines Fenster, durch das wenig Licht hereinkam. Daneben sah er die Feuerstelle. Die Wände und die Decke waren dunkel vom Qualm und Ruß vieler Jahre. Das Feuer brannte jetzt nicht, in einer Ecke flackerte jedoch auf einem Leuchter die kleine Flamme einer Öllampe. Man brauchte sie auch am Tage: So dunkel war es in diesem Raum.

Nahe der Tür, wo Joseph stehengeblieben war, bewegte und scheuerte sich etwas. Man sah im Halbdunkel die Hinterteile eines Esels und einer langhaarigen schwarzen Ziege. Menschen und Tiere lebten hier unter einem Dach, in einem Raum, wie in vielen Häusern ringsum. An einer Wand lehnten die Schlafgestelle für den Mann und seine Familie. Diese Matratzen breitete man abends auf dem Fußboden aus, darauf schlief die Familie. Dort hatte auch Joseph einen Platz, auf dem er sich ausstrecken konnte.

Er wollte jetzt aber nicht schlafen. Er lehnte vor dem Haus und dachte an seinen Traum in Nazareth. Ein Sohn sollte es werden, und das stimmte ja nun. Am meisten freute er sich darüber, daß es ein Sohn war. Das erste Kind war ein Sohn. Mein Kind ist es gar nicht, dachte er, aber das muß ich ja nicht jedem erzählen; wir wissen es und das genügt. Der Junge soll unser Kind sein. Wir werden ihn Josua nennen, Gotthilf, und wir werden seinen Namen griechisch aussprechen: Jesus. So habe ich das neulich geträumt. Und dabei bleibt es.

Er freute sich aber auch darüber, daß er den Traum nicht in den Wind geschlagen hatte. Was wäre aus uns geworden? dachte er. Ich wollte Mirjam verlassen. Ich wollte einfach verschwinden. Wir waren erst verlobt. Da erzählte sie mir, daß sie ein Kind erwartet. Ich konnte aber gar nicht der Vater sein. Das war klar. Ich habe Tag und Nacht darüber nachgedacht, ob es nicht besser ist, wenn ich mich von Mirjam trenne. Eines Nachts dachte ich auch an das Kind. Vielleicht wird es ein Junge, dachte ich. Vielleicht wird aus ihm ein bedeutender Mann. Und dann muß ich wohl eingeschlafen sein. Aber die Gedanken blieben wach. Ja, es wird ein Junge, träumte ich. Ja, er wird auch ein bedeutender Mann. Ich sah einen Menschen, der mir sogar sagte: »Das Kindist der Befreier, auf den ihr alle wartet. Bleibe bei Mirjam. Sie wird deine Frau sein. Und das Kind soll Jesus heißen.«

Jetzt bin ich froh, dachte Joseph, daß ich den Traum nicht in den Wind geschlagen habe. Schon als Kind habe ich gelernt, daß man Träume nicht in den Wind schlägt. Nun ist es tatsächlich ein Junge und sie ist meine Frau. Jetzt schläft sie, ruht sich aus, sie war ganz erschöpft vorhin. Unsere Gastgeber haben ihr einen guten Platz eingeräumt: An der Mauer, die Steinbank, die haben sie mit einer Decke bedeckt. Darauf liegt sie und schläft.

Den besten Platz aber, dachte Joseph stolz, den hat der Sohn. Er liegt in einer Krippe. Die Leute hatten noch einen zweiten Futterkorb. Sie sagten, ihre Tochter habe darin schon gelegen. Viele einfache Leute betten ihre Säuglinge in solche Körbe. Darin liegt der Junge nun, der Jesus. Einen besseren Platz für das Kind konnte man in dieser Herberge gar nicht finden.

Joseph lauschte in die Hütte, doch da rührte sich nichts. Ihm fiel der Traum wieder ein. Der Sohn lag nun da. Aber der Befreier? Er hob die Schultern. Einen Neugeborenen, noch dazu den ersten, den halten fast alle Eltern für einen kleinen König. Wenn die Kinder aber wachsen, sieht das anders aus. Wenn sie kommen und gehen, wenn sie ja und nein sagen können, sieht alles anders aus.

Joseph ließ die Schultern locker. Er hörte Schritte vorn auf dem Weg, Männerschritte. Sie kamen näher. Da sah er auch schon zwei, drei, vier Gestalten, Männer, die offenbar heraufkamen vom Feld, auf dem die Herden lagen. Er blieb an seinem Platz. Die Männer sahen, daß in der Hütte die Öllampe brannte und entdeckten ihn. Der erste trug einen Hirtenstab. Also kamen sie wirklich vom Feld, zu nachtschlafender Zeit. Vor Joseph blieben sie stehen.

»Der Herr sei mit dir«, sagte einer ziemlich hastig, »ist hier das Kind?« Was sind das für Sitten, dachte Joseph, sie fallen gleich mit der Tür ins Haus. Er stand auf und verneigte sich langsam. »Ja«, sagte er, »hier ist ein Kind.« - »Wir werden nicht stören«, sagte ein anderer, »wir möchten das Kind sehen.« Joseph wunderte sich, aber er ging voran in die Hütte, die Männer hinter ihm her, einer nach dem anderen und ganz vorsichtig. Es sah beinahe komisch aus, wie sie mit ihren schweren Gliedern versuchten, leichtfüßig über den festen Lehmboden zu schleichen. Joseph hielt die Lampe, damit sie es sehen konnten, das Kind im Korb. Da wurde die Ziege unruhig. Die Männer standen starr, keiner rührte sich. Mirjam bewegte den Kopf und blinzelte herüber. Joseph gab ihr ein Zeichen, daß alles in Ordnung sei. Sie drehte den Kopf wieder weg. Er würde ihr morgen von den nächtlichen Gratulanten erzählen.

Draußen verneigten sich die Männer nur. Sie gingen ohne ein Wort. Doch einer kam nach wenigen Schritten zurück: »Herr, wie heißt das Kind?«

»Dieses Kind heißt Jesus«, sagte Joseph.

»Wir waren vorhin bei der Herde«, sagte der Mann, »wir sprachen über Gott und die Welt. Wir sprachen von unserem Volk und vom Erlöser und ob er bald kommt. Auf einmal hatten wir eine Erleuchtung. Jemand stand bei uns, der sagte >Keine Angst, ihr Männer, ich habe eine gute Nachricht für euch, die das ganze Volk angeht: Heute nämlich, heute ist der Befreier geboren, der Christus. Geht rauf nach Bethlehem, da werdet ihr sehen, was ich sage. < Wir dachten, Herr, das darf doch nicht wahr sein. Der Befreier ist da und wir sollen ihn sehen? Dann gingen wir los. Alle. Das war noch nie da. Keiner blieb zurück. Keiner blieb bei der Herde. Man wird uns bestrafen. Wir haben die Herde verlassen. Aber wir haben den Befreier gesehen. Jesus ist Christus. Weißt du das?« Er ließ Joseph stehen und lief den Männern nach.

Ja, weiß ich das? fragte Joseph. Ich hab's geträumt. Das ist wahr. Es wird sich zeigen. Ich bin ein Handwerker, kein Prophet. Ob ein Balken trägt, weiß man erst, wenn man rübergelaufen ist. Wenn ein Kind geboren wird, fängt die Geschichte erst an. Mit diesen Männern aber ist sie eigentlich schon weitergegangen.

Er hockte sich wieder an die Hauswand und sah zum Himmel. Zwei Sterne waren ganz dicht aneinandergerückt. Zusammen sahen sie beinahe aus wie ein einziger Stern, der größer war als alle anderen.

Wolfgang Fietkau


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