Zitieren nach Noten

Über das Ansagen von Liedern


Mit älteren Chorälen - sagen wir: alle, die vor 1950 entstanden – haben viele ihre Schwierigkeiten. Im Kreise kritischer Geister fragt man sich, ob es noch möglich und überhaupt zu verantworten ist, so alte Choräle zu singen. Es gibt aus den letzten 50 Jahren ja auch Lieder neuerer Bauart und Sprache. Kann man junge Menschen dazu anhalten, Christus, den Sohn Gottes, mit den Worten „Ei meine Perl" singend anzubeten und fortzufahren: „Mein Herz heißt dich ein Himmelsblum“? Ähnliches gilt sogar schon für Texte von Jochen Klepper und Rudolf Alexander Schröder. Oder kann man mit Klepper singen, die Nacht sei „im Schwinden“?

Ist das aber ein Grund, ältere Choräle nicht mehr zu singen? Sind sie für Gottesdienste in unserer Zeit unbrauchbar? Man kann diese Frage getrost verneinen. Nicht deshalb, weil die Gemeinden die alten Choräle durch ständigen Gebrauch lebendig „halten“, oder weil manche Gemeindeglieder sich ein christliches Leben ohne diese Choräle, die ja schon „immer dazugehörten“, gar nicht vorstellen können. Wenn die alten Lieder noch ihren Platz im Gemeindeleben haben, dann hat das einen anderen Grund.

Wir würden kaum auf die Idee kommen, ein altes Kirchengebäude abzureißen, weil die Architekten heute anders bauen als ihre Vorgänger in früheren Jahrhunderten. Wir würden kaum auf die Idee kommen, in einer alten Kirche könne man keinen Gottesdienst feiern. Wir würden auch nie auf die Idee kommen, ein altes Bild zu zerstören, weil die Künstler unserer Zeit dasselbe Motiv inzwischen anders darstellen. Soll für alte Choräle etwas anderes gelten?

Wenn wir eine alte Kirche betreten, ist eine unserer ersten Fragen: „Wann wurde sie gebaut?“ Wenn wir ein altes Gemälde sehen, ist unsere erste Frage: „Wer hat das wann gemalt?“ Aber wenn wir einen alten Choral aufschlagen, ist unsere erste Frage: „Welche Strophe?" Uns interessiert oft nicht einmal der Titel des Liedes, geschweige denn der Name des Verfassers, wir fragen nach jenen Ziffern auf den Liedertafeln, die eine chiffrierte Liederfolge für den Gottesdienst bekanntgeben. Weshalb die Gemeinde von ihren Liedern vorwiegend in Ziffern spricht, ist nun wirklich nicht einzusehen. Denn auch der Pfarrer, die Pfarrerin sagen, wenn sie die Liedertafeln gar nicht benutzen: „Wir singen heute das Lied Nummer ...“. Worauf sie, wenn man Glück hat, noch die erste Zeile des Liedtextes sprechen. So darf man sich nicht wundern, wenn Sängerinnen und Sänger hoffentlich merken, daß sie sich die Worte, die sie singen, nicht zu eigen machen können. Sie antworten auf eine Predigt mit Worten, die ihre Antwort gar nicht sind.

In einer anderen Situation wäre die singende Gemeinde, wenn sie statt: „Wir singen heute ...“ hören würde: „Wir singen heute das Lied Christian Davids ...“, oder: „Wir singen heute wie unsere Väter ...“, oder: „Wie die Gemeinden seit dreihundert Jahren.“ Die Sänger wüßten nun, sie sollen nicht singen, als würden sie die Worte formulieren, sondern sie sollen singend zitieren, was ein anderer formuliert hat. Zitieren schafft eine Distanz, aus der man entscheiden kann, ob man sich mit den zitierten Worten identifizieren will oder kann. Das gilt auch für Choraltexte, und das sollten wir in der Gemeinde gelegentlich erfahren.

Für „zitieren“ könnte man hier auch sagen „verfremden“. Verfremden heißt jedoch nicht, einem Text fremde Vokabeln beigeben, also womöglich in einem alten Text bestimmte „alte“ Redeweisen durch neue ersetzen. Verfremden, jedenfalls im Sinne Bert Brechts, der diesen Begriff in seiner Dramaturgie verwendete, heißt: Ich singe nicht „Wie schön leuchtet der Morgenstern“, sondern ich zeige, wie Philipp Nicolai gesungen hat: „Wie schön leuchtet der Morgenstern.“ Dabei gebe ich mir und allen, die mich hören, die Gelegenheit, daß sie, daß ich, daß wir uns mit Nicolai vergleichen. So können wir feststellen, oder auch nicht, daß wir mit ihm gleichen Sinnes sind, daß uns aber vielleicht die eigenen Worte fehlen für das, was er zu seiner Zeit so gesagt hat. Das mag theoretisch klingen, es scheint schwierig zu sein in der Praxis, also im Gottesdienst, eine solche Distanz zwischen den Sängern und dem Lied zu schaffen. Tatsächlich aber ließe sich oft schon durch einen einleitenden Satz bei der singenden Gemeinde das Bewußtsein herstellen: Jetzt zitieren wir nach Noten.

Mancher wird das freilich für gefährlich halten, ja geradezu für einen Appell an die Gemeinde, am Gottesdienst nicht mehr „richtig“ beteiligt zu sein. Aber man braucht niemandem Gewalt anzutun. Wer bisher glaubte, die Choraltexte „nachvollziehen“ zu können, der kann bei seiner Übung ja bleiben. Dann bleibt wenigstens dahingestellt, ob er sich etwas vormacht, wenn er singt „Ei meine Perl“. Es wäre ja schon viel gewonnen, wenn man in einem Gottesdienst wenigstens von der Möglichkeit erführe, den Choraltext als Zitat mitzusingen.

Wer beispielsweise das Lied nach einer Predigt als Zitat singt, wem also dabei klar ist, daß er das Wort und die Antwort eines anderen vorbringt, dem wäre immerhin bewußt, daß seine persönliche Antwort auf die Predigt noch aussteht. Der Sänger mit der „inneren Beteiligung“ wird sich darüber leicht täuschen. Als Zitat oder in der Verfremdung können die alten Choräle heute und vermutlich noch lange leben. In dieser speziellen Funktion haben sie ihren Platz in der Gemeinde. Sie stammen ja zum Teil von namhaften Autoren, deren Werke uns auch außerhalb der Gemeinde begegnen und deren Worte wir in anderen Zusammenhängen zitieren. Allerdings wissen wir außerhalb der Gottesdienste recht gut, daß ein Zitat, nahezu wertlos ist, wenn wir nichts über den Verfasser und die Entstehungszeit zu sagen haben, wenn uns die Quelle fehlt. Diese Regel könnte auch im Gottesdienst gelten.

Wolfgang Fietkau


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