Sommer kommt

Dem SR-Redakteur Norbert Sommer zum Abschied vom Funkhaus


Für den Film „Die Berliner Dreierbande“, traf ich das Team des Saarländischen Rundfunks 1985 auf dem Kirchentag in Düsseldorf. Wir machten Aufnahmen mit Heinrich Albertz und Kurt Scharf. Dann ging es am 7. Juni weiter nach Attendorn. Dort waren wir um 13 Uhr mit Heinrich Böll verabredet. Für unseren Film über das Trio Albertz, Scharf und Helmut Gollwitzer sprach Böll sein Gedicht „Friedens-Bandit“: Eine der letzten Aufnahmen mit Heinrich Böll, der am 16. Juli 1985 starb.

In meinen Unterlagen über diese Verabredung finde ich eine kurze Notiz: „Sommer kommt“. Das war nicht selbstverständlich. Für mich klangen diese beiden Worte positiv. Für die Ohren freier Mitarbeiter und Zulieferer für Redaktionen läßt sich das durchaus nicht allgemein sagen. Es gibt auch kollegiale Verhältnisse, in denen es eher wie eine Drohung klingt, wenn es heißt, der Redakteur erscheine am Drehort.

Im Dezember 1984 hatte ich mich an die Protagonisten dieses Films herangemacht. Für den Einstieg konnte ich darauf setzen, daß diese drei in Berlin wußten, wer Norbert Sommer in Saarbrücken ist. Wenn man als Journalist zunächst mit sich und dann mit einer Redakteurin, einem Redakteur etwas ausgedacht hat, von dem man meint, das sei nun dran, gibt es fast immer einen prickelnden Moment: Wenn dieses Etwas, wie so oft, davon abhängt, daß die dafür ausgeguckten Menschen mitspielen. Du kramst also alle Geschicklichkeit zusammen und versuchst, deine Zielpersonen, und hier sogar drei, so anzusprechen, daß sie dem Projekt geneigt sind. Jeder, der die Situation kennt, weiß allerdings, daß er gleichzeitig auch solche sucht, die einen Widerstand bieten, also erst gewonnen werden müssen. Zur guten Idee gehört, auf solche Partner zu setzen, die nicht gerade darauf warten, ihr Ding endlich einmal oder am liebsten immer wieder vor Mikrofon und Kamera zu sagen. Du suchst also jemand, der eigentlich gar nicht will, eine Hürde, die hoch, aber noch überwindbar sein soll.

Wie also drei prominente, eigenwillige Rucksackberliner, die gewohnt sind, ganz anderen als einem kleinen Autor und einem kleinen Sender zu zeigen, was eine Harke ist, für die Idee gewinnen, in einem ARD-Film mitzumachen, noch dazu unter dem Titel „Die Berliner Dreierbande“? Nun ja, den haben wir ihnen nicht gleich auf die Nase gebunden. Mir kam zugute, daß ich unter allem, was in solchen Situationen hilfreich sein kann, als Vertrauenswecker den Redakteur nennen konnte. So schrieb ich, was initialzündend sein mußte, einem jeden der Drei auf den Weihnachtsgruß 1984, daß ich mich noch melden würde, es gehe da um einen Film und: „Redakteur ist Norbert Sommer, den Sie von den ‚zornigen alten Männern’ kennen“. Von jenem Buch also, das 1983 von ihm herausgegebenn worden war und nun als Sympathie- brücke herhalten konnte.

Das zog; die Sache klappte. Und sie haben uns auch den Filmtitel nicht übelgenommen. Allenfalls mißfiel ihnen, wie mir Scharf, besonders im Namen der beiden anderen mitteilte, daß wir Eberhard Diepgen, den langjährig Regierenden Bürgermeister in den Film einbezogen und über das Trio befragten, ohne sie darüber informiert zu haben. Das nun schien mir nach den Regeln des Handwerks eher eine Anerkennung als eine Kritik zu sein. Denn man hat auf nette Art zu verhindern, daß journalistisch Porträtierte, auch wenn sie einem noch so sympathisch sind, vorher das Manuskript oder den Schneideplan sehen oder Informationen erhalten, die dem gleichkommen. Solche Regeln sind ein bißchen aus der Mode geraten. Aber die nächsten zornigen alten Männer könnten das zu ihrem Thema machen: Nun vielleicht Journalisten, die Verantwortung abgeben, aber mitdenkend dran bleiben. Sofern sie sich nicht ruhig stellen lassen und dann damit herausreden, sie seien doch im Ruhestand.

Das Berufsleben wollte es, daß ich mit dem Saarländischen Rundfunk schon lange vor der Sommer-Zeit zu tun hatte. Zunächst war da, seit 1964, eine Zusammenarbeit mit Dr. Franz-Joseph Reichert. Er holte sich bei mir gelegentlich Berichte über den Protestantismus in Ländern, die heute dem Begriff EU-Osterweiterung zugeordnet sind, seinerzeit im Jenseits des Eisernen Vorhangs lagen. Die Verhältnisse waren noch so, daß du als Autor beim Funk gar nicht sprechen durftest. Dafür gab es Sprecher. Und alles hatte eben seine Form. Der Redakteur aus Saarbrücken grüßte hochachtungsvoll, nach einiger Zeit auch sehr ergeben. Das war nun mal so. Umso auffälliger dann, daß seine Nachfolgerin, kurze Zeit später, herzliche Grüße sandte. Inzwischen hatten die 68er die Üblichkeiten dauerhaft verändert. Zwischendurch hatte ich es auch mit evangelischen Redakteuren, mit Barwitz, Franz und Hondrich. Aber hauptsächlich in langwährender Ökumene mit denen, die katholisch sind. In deutschen Funkredaktionen spielt die Konfession glücklicherweise seit vierzig Jahren keine Rolle. Ich habe oft einen Vorteil darin gesehen, daß einer mit „rk“ und einer mit „ev“ auf der Steuerkarte, zusammenarbeitend auf einen weiteren Horizont kommen. Die Nachfolgerin, Sommers Vorgängerin, war, wie die Kenner längst wissen, Dr. Erika Ahlbrecht.

Den Wandel der Anreden erwähne ich, weil sie einen nicht unwichtigen Teil Gesellschaftsgeschichte bloßlegen. In den Funkhäusern war es um 1970 herum selbstverständlich, daß man sich, vom Intendanten zum Hilfsredakteur und zurück, als liebe Frau und lieber Herr anredete. Ein Jahrzehnt später noch, als ich 1982 mit dem Wichern-Verlag als Mieter ins Haus einer Kirchenbehörde kam, erlebte ich, daß die Zeit dort still vorübergezogen war. Die Herren ehrten sich gegenseitig sehr. Die Damen waren ohnehin weit überwiegend in den Gehaltsstufen mit den höheren Ziffern. Dabei übersahen die Herren beflissen, daß sie gemeinsam einen solchen haben, der alle verschwistert. Die Fremdheit zwischen Kirche und „Welt“ ist mir in kaum einem anderem Zusammenhang so deutlich geworden wie in den Anredeformeln unter solchen, die sich in Funkhäusern „nur“ als Kollegen verstehen und solchen, die angeblich als Brüder in der Kirche Hof halten.

Ein SR-Redakteur sei noch erwähnt: Der meldete sich 1973, frisch vom Studium weg und evangelikal bewegt, aus einem geenterten Redaktionsstuhl in Saarbrücken.
Irgend jemand wird ihm da hineingeholfen haben. Er teilte wie ein Befreier den staunenden Fachjournalisten mit, durch ihn werde nun, anders als weithin üblich, auch die Sache des Evangeliums in den Kirchenfunk gebracht. Man möge die Themenvorschläge bitte nur an seine Privatadresse richten. Das währte zwar kurz. Aber immerhin.

Norbert Sommer war 1978 gekommen. Er stieg gleich in eine Spezialität ein, die in Saarbrücken schon mehrmals unter einigem Ächzen gelaufen war: Ein Verbundseminar zwischen den konfessionellen Bildungsstätten in der Region und dem Sender. Mit Sendereihen und Gesprächsgruppen in großer Zahl im Lande, die das Gehörte dann erörterten, und extra erstellten Begleitheften mit extra erstellten Artikeln und zusammengefaßten Inhalten der Sendungen und was man so macht. Am Anfang wäre diese bahnbrechende Idee fast an ein jähes Ende gekommen, weil die Konzeptlieferanten von der pädagogisch-methodischen Seite die Register all ihres Erlernten und Studierten so heftig zogen, daß wir armen Funkautoren vor soviel Gescheitheit fast plattgegangen wären und nach Luft japsten, unser schlichtes Handwerk für ein normales Publikum noch frei und unbescholten ausüben zu können.

Norbert Sommer setzte die Reihe der Ökumenischen Verbundseminare nun fort. In das zweite, „Mut zum Glauben“, stieg er 1978 ein. Das dritte stand 1981 an; es hieß „Miteinander leben“. Und inzwischen waren wir als Autoren nur noch zu zweit, nämlich Gisela Bühler-Heinen und ich. Wir haben die zehnteilige Reihe, wozu unsereiner nur selten Gelegenheit hat, mit größerem Vergnügen in Spielszenen getaucht. Wir erfanden eine vierköpfige Familie mit Opa und Hund und machten wohl so eine Art Reli-Soap. Unserem Redakteur zu Ehren gaben wir der Familie den Namen Winter.

Das Mitgehen von Norbert Sommer, auch an Drehorte, war ein solidarisches Anteilnehmen und unprätentiöses Dabeiseien. Was als selbstverständlich gelten sollte, ist - wie die Berufspraxis sich nun einmal entwickelt hat - hervorhebenswert: Sein Hauptinteresse war nicht, was der Intendant und die Kollegen meinen werden, auch nicht, ob der Beitrag so wird, wie er ihn machen würde, sondern allein, ob der Beitrag gut wird, also anders als im Trend der aktuellen Macher-Mode, also eigenwillig interessant und der Aufklärung so verpflichtet wie der biblischen Tradition. Was ja schon schwer genug ist.

So kam er 1981 auch nach Hamburg. Dort arbeiteten wir, ebenfalls für die ARD, mit Dorothee Sölle an dem Film „Die neue Sprache finden“. Der Zufall wollte es, daß der Beitrag an jenem Tage gesendet wurde, am 10. Oktober, an dem in Bonn die große Friedensdemonstration mit 300.000 Teilnehmern stattfand. Auch Dorothee Sölle sprach dort. Fast gleichzeitig erläuterte sie in unserem Film, wie sie es mit Sprache und Religion hält, warum sie Gedichte schreibt. Außer den Interview-Teilen gab es in diesem Halbstundenbeitrag nur Gedichte zu hören, von Elmar Schönecker mit sensiblen Bildsequenzen versorgt, und gesprochen von Ilse Strambowski, die Norbert Sommer dafür ins Saarbrücker Studio geholt hatte. Am Ende des langen Interviews, so blieb bei mir von den Aufnahmen, noch in der Bernadottestraße, hängen, zündete Dorothee sich ein Pfeifchen an.

Seit 1988 hieß „Sommer kommt“ auch: Er hat wieder ein Buch unter dem Arm, wenn er nach Berlin fährt und den Wichern-Verlag besucht. Nun waren wir Herausgeber (er) und Verleger (ich). Wir verstauten sorgfältig ganze Sendereihen aus Saarbrücken in Büchern. Bücher, die durchaus hellhörig waren und hellhörig machen und dem Verlag Autoren bescherten, die er ohne diesen Medien-Verbund kaum erreicht hätte, schon gar nicht in solcher Zahl und mit einem europäischen Zuschnitt. Mit „Glasnost, Christen und Genossen“ fing es 1988 an. Mit der Sammlung „Der Traum aber bleibt“ ging es weiter: Ein Buch, das 1992 die Frage stellte, was denn nun aus dem sozialistischen Gedankengut werden kann. An den offenen Antworten kränkelt die Gegenwart noch. Im Verlag war uns klar: Solche Sendereihen und dann Bücher kann nur einer machen, der einen persönlichen Draht zu vielen unterschiedlichen Autoren, Publizisten, Denkern und Politikern hat.

Und wenn er nun geht, der Sommer, sage ich mit dem Titel einer der letzten Sendungen, die ich bei ihm machen konnte: „Aufhören und weitermachen“. Das könnte es sein. Beides. Natürlich anders weitermachen. Ich wünsche ihm, daß die Tür hinter ihm nicht hörbar ins Schloß fällt. Also den gehörigen Respekt. Der im Saarland vielleicht noch nicht so rar ist, wie sonst in dieser Welt. Die nächsten werden es anders machen. Aber ich hoffe, daß sie nicht so tun, als müsse der Rundfunk nun wieder einmal erfunden werden.

Wolfgang Fietkau


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