Die angedrückten Tomaten

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Eine unverwechselbare Angst steht manchen Frauen und Männern im Gesicht geschrieben. Ich meine die Angst vor angedrückten Tomaten. Man muß das einmal sehen, auf dem Markt oder an irgendeiner Einkaufsstätte, Abteilung Obst und Gemüse. Wie sie sich der Auslage nähern mit furchtsamem Blick, den Papptellern mit Tomaten, den feinmaschigen Netzen mit Tomaten, den losen Tomaten in der Kiste. Aus einiger Entfernung haben sie schon erkannt, daß alle Tomaten, die sichtbar sind, mehr oder weniger nicht ganz in Ordnung, uneben gewachsen, ungleich gerötet und vor allem eins sind: angedrückt.

Mit spitzen Fingern machen sich die Tomatenkäufer nun daran, das tieferliegende Gemüse zu mustern. Ihre Miene verrät: So schnell dreht man mir keine angedrückten Tomaten an. Ich bin auf der Hut. Ich bin kritisch. Mit mir nicht. Ich sehe zwar: man versucht es. Da liegen Tomaten, bei denen man fürchten muß, sie seien angedrückt. Sehen jedenfalls so aus. Muß ja so sein. Was oben liegt, ist immer angedrückt. Aber ich bin vorsichtig. Ich brauche zwar heute Tomaten, aber die sollen unverletzt sein, nicht einmal angedrückt.

Da sieht man dann wie sie auf der Hut sind, die Frauen und Männer. Manche Frauen anders als manche Männer. Die Frauen mit größerer Selbstverständlichkeit: Mal sehen, ob hier Tomaten verborgen sind, die meinen Ansprüchen genügen. Sonst gehe ich zur Konkurrenz. Ich weiß, daß ich hier die unangedrücktesten Tomaten herausfische, die überhaupt da sind. Oder ich finde keine. Manche Männer dagegen scheinen keinen Mut zur Angst zu haben. Warum sich fürchten vor angedrückten Tomaten, warum nicht die besten ersten Früchte einfach mitnehmen. Aber: Wer möchte sich sagen lassen, er habe sich angedrückte Tomaten andrehen lassen? So wollen sie es schon zeigen, diese Männer, daß sie auf dem Plan sind und tapfer und sorgfältig.

So suchen sie und grabbeln sie in den Tomaten, die Männer und Frauen. So prüfen sie und sind sie auf der Hut. Und während sie prüfen und grabbeln, von oben nach unten, von vorn nach hinten, während sie gucken und riechen und fühlen, während sie unbändig auf der Hut sind vor angedrückten Tomaten - geschieht unablässig etwas Unschönes: sie drücken Tomaten an.

Mag ja sein, daß sie schließlich noch finden, was sie suchen, ganz unten die unberührten Früchte. Aber wer weiß: vielleicht haben vor ihnen andere Tomatenfreunde schon ihr Glück versucht. Und die untersten Tomaten liegen längst oben. Die Tomatenfreunde nach ihnen werden jedenfalls eine liebe Not haben, etwas Unberührtes zu finden. Ihre Angst wird bestätigt: Hier eine angedrückt, dort eine angedrückt. Die ganze Lieferung scheint einen Transportschaden zu haben. Und die Angst des Gemüsehändlers vor angedrückten Tomaten ist am Ende ganz berechtigt.

Was hier, vielleicht ein wenig übertrieben von Tomaten gesagt ist, läßt sich übertragen. Natürlich auf Äpfel und Pampelmusen, auf Bananen und Birnen, auf Schokoladeneier und Marzipan. Auch wenn eine Folie über der Ware liegt, drücken viele, um mal zu sehen, wie es aussieht, wenn sie gedrückt ist, und dann lassen sie das Stück liegen, weil es ja angedrückt ist und nehmen ein neues, unberührt soll es sein oder wenigstens so aussehen.

Die Angst vor angedrückten Tomaten ist aber übertragbar auch auf andere Lebensbereiche. Ein Buch, das ein anderer schon in der Hand hatte, wollen viele in der Buchhandlung nicht mehr kaufen. Unberührt soll es sein oder wenigstens so aussehen. Deshalb findet man viele Bücher in einer Folie eingeschweißt. Nun kann man zwar nicht mehr aufschlagen und nachsehen, was man kauft, aber der Käufer kann ziemlich sicher sein, wenn er die Folie abreißt, daß niemand vor ihm das Buch in der Hand hatte. Ziemlich sicher: denn manche Buchhandlungen haben inzwischen ein Folienschweißgerät, stellen die Bücher durchaus offen und richtig zum Blättern und Prüfen hin, aber wenn es sein muß, können sie das berührte Stück auch einschweißen, damit es wieder unberührt aussieht.

Manchem Autokäufer könnte man wahrscheinlich einen ziemlich ausgeleierten Motor verkaufen, wenn nur das Blech und der Lack in Ordnung sind. Unberührt muß es aussehen. Das kann man für sein Geld verlangen. Dabei sorgen wir alle unablässig dafür, daß Tomaten angedrückt werden, daß in Büchern geblättert, in Autos gefahren wird, daß wir Spuren hinterlassen. Nur vorfinden möchten wir stets, was taufrisch und unberührt ist. Dabei geht es freilich nur um den äußeren Eindruck. Wie gut ein Auto wirklich fährt, hängt nicht von der Delle im Blech oder dem Kratzer im Lack ab, wie brauchbar und lesenswert ein Buch wirklich ist, hängt nicht von einem Stäubchen auf dem Umschlag ab.

Und wie schmackhaft eine Tomate ist, ich bitte Sie, das wissen doch am wenigsten meine Augen oder Fingerspitzen. Das merke ich erst, wenn ich sie esse.

Wolfgang Fietkau


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